POLITIK
Neuregelung der Organspende: Ringen um die Entscheidung


Eine Novellierung des Transplantationsgesetzes war überfällig, jetzt ist sie in Reichweite. Es zeichnet sich eine Lösung zur Regelung der Organspende ab, die dem Beschluss des Deutschen Ärztetags nahe kommt.
Es ist selten, dass das Procedere eines Gesetzgebungsverfahrens geändert wird. Ob aktuell zur Präimplantationsdiagnostik oder dem Atomgesetz: Normalerweise kommen zunächst Anträge oder Entwürfe aus der Mitte des Parlaments. Der für das Gesetz federführende Ausschuss lädt dann externe Experten zu einer Anhörung, danach beraten die Fachleute der Fraktionen, dann das Parlament.
Dass bei einem Teil der geplanten Novellierung des Transplantationsgesetzes (TPG), nämlich den ethischen Fragen, nun die übliche Reihenfolge umgekehrt und eine Expertenanhörung dem Einreichen von Anträgen vorangestellt wurde, macht den Beratungsbedarf deutlich: Man wollte erst noch einmal Meinungen der Experten hören, bevor Anträge formuliert werden. „Diese sehr grundsätzliche Debatte sollte nicht mit kleinkarierten, parteipolitischen Festlegungen beginnen“, hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier im Vorfeld zur Anhörung in einem Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt gesagt (DÄ, Heft 9/2011). Die Parteispitzen hätten sich geeinigt, vor der Anhörung auf Gruppen- oder Fraktionsanträge zu verzichten.
Am 29. Juni hatten in einer öffentlichen Sitzung des Gesundheitsausschusses deshalb die Sachverständigen das Wort: zu Medizin, Ethik und Recht. „Anders als manche Berichterstattung suggeriert, steht noch nicht fest, zu welchen Bereichen des Transplantationsgesetzes es Änderungsanträge geben wird“, sagte die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Carola Reimann (SPD). „Es wird vermutlich Anträge zur postmortalen Organspende geben und zur Information der Bevölkerung. Ob die Anträge auch zum Beispiel die Lebendspende betreffen, wissen wir noch nicht“, so Reimann zum Deutschen Ärzteblatt.
Aus der Anhörung und den Diskussionen der vorangegangenen Wochen ist das Ziel der Novellierung gleichwohl klar: Der Gesetzgeber möchte dem eklatanten Organmangel entgegenwirken und Defiziten bei der Aufklärung der Bevölkerung. Er möchte mehr Bürger motivieren, sich zur Frage einer möglichen Organspende nach dem Tod zu erklären: einerseits, um Angehörige von dieser schwierigen Entscheidung zu entlasten, andererseits, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen, indem die Lücke zwischen der Bereitschaft zur Spende und fehlender Dokumentation geschlossen werde, sagte Reimann.
Verfassungsrechtliche Fragen der Organspende erörtert
Denn trotz Rechtssicherheit durch das geltende Transplantationsgesetz sterben in Deutschland durchschnittlich drei Menschen täglich, weil sie nicht rechtzeitig ein Organ erhalten. In welcher Weise der Staat und die Bürger nun in der Pflicht sind, daran etwas zu ändern, ob das Gesetz lediglich nachgebessert werden sollte oder eine tiefergehende Reform notwendig und möglich ist, wurde bei der Anhörung ausgelotet – auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten. Denn die Versorgung mit Organen betrifft sowohl Grundrechte potenzieller Spender, als auch der wartenden Patienten.
Seit einigen Jahren schon hatten Teile der Ärzteschaft eine Novellierung des Gesetzes gefordert. Keine der Vorgängerregierungen aber wollte nach den Erfahrungen des langwierigen Gesetzgebungsverfahrens in den 90er Jahren sich dieser heiklen Aufgabe annehmen (eKasten: Geschichte des Gesetzes). Nun muss die Bundesregierung ohnehin ihrer Pflicht nachkommen, die 2010 verabschiedete EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards für zur Transplantation bestimmte menschliche Organe in nationales Recht umzusetzen. Inhalt der Richtlinie sind Standards für alle Abläufe der Transplantation – von der Spende eines Organs bis zur Implantation, teilweise auch die Nachbeobachtung.
Und so hat die Regierung die Novellierung des Gesetzes aufgeteilt: Anfang Juni hatte das Kabinett bereits einen Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes in organisatorisch-technischen Fragen beschlossen. Er sieht auch strukturelle Verbesserungen vor, um dem Organmangel entgegenzuwirken. So wird die bereits bestehende Pflicht der Krankenhäuser untermauert, aktiv an der Organspende mitzuwirken und alle potenziellen Spender zu melden. Jede für Organspende relevante Klinik soll einen Transplantationsbeauftragten bestellen.
Ob solche Strukturverbesserungen ausreichen, um dem Organmangel zu begegnen, ist umstritten und Gegenstand des zweiten Teils des Verfahrens. Diskutiert werden Änderungen bei der Einwilligung zur Organspende. § 3 des Transplantationsgesetzes regelt die Organentnahme nach dem Tode. Danach ist eine Voraussetzung für Organentnahme, dass entweder der Spender zu Lebzeiten oder die Angehörigen nach dem Tode zugestimmt haben (erweiterte Zustimmungslösung).
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich im Wesentlichen für die Beibehaltung der erweiterten Zustimmungslösung ausgesprochen. „Für die sehr sensible und höchstpersönliche Erklärung zur Organspende darf es auch künftig keinen Zwang geben“, heißt es in einem Positionspapier der FDP-Fraktion. Auch eine Pflicht zur Erklärung dürfe es nicht geben. Jeder müsse die Freiheit haben, keine Meinung zu haben oder diese nicht zu äußern. Das Argument, dass Länder, in denen die Widerspruchslösung gilt, deutlich höhere Organspenderraten hätten, will die FDP nicht gelten lassen. In Deutschland seien die Spenderraten von Region zu Region unterschiedlich. Rheinland-Pfalz zum Beispiel erreiche etwa das Niveau von Italien und Norwegen, wo die Widerspruchslösung gelte (Grafik).
Unter den Sachverständigen bewertete Prof. Dr. med. Günter Kirste (Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, DSO) bei der Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss Strukturverbesserungen als vorrangig vor Änderungen an der Regelung zur Einwilligung. „Bei optimalem Meldeverhalten ließen sich 40 Organspender pro Million Einwohner im Jahr rekrutieren“, sagte Kirste. „Erfahrungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dass sich mit einem solchen Spenderaufkommen der Bedarf an Organen langfristig decken ließe.“
Ein großer Teil der Ärzteschaft allerdings plädiert für eine Änderung bei der Einwilligung zur Organentnahme. Im vergangenen Jahr hatte sich der 113. Deutsche Ärztetag in Dresden für die Einführung einer Widerspruchslösung ausgesprochen. Danach dürften Organe dann entnommen werden, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten nicht widersprochen hat. Doch die Delegierten des diesjährigen Deutschen Ärztetags ließen sich davon überzeugen, dass eine solche Regelung im Parlament vermutlich keine Mehrheit finden würde. Die Ärzteschaft verabschiedete damit einen Vorschlag der Bundesärztekammer (BÄK): eine Selbstbestimmungslösung mit Informations- und Erklärungspflicht.
Das Modell sieht vor, die Informationen der Bürger dauerhaft so zu intensivieren und zu institutionalisieren, dass sich die Bürger zur Frage der Organspende erklären. Wird das Recht zur Erklärung nicht zu Lebzeiten wahrgenommen, können dem Verstorbenen unter Ermittlung des mutmaßlichen Willens durch Einbeziehung der Angehörigen Organe und/oder Gewebe entnommen werden. Mit dieser Regelung würden die positiven Aspekte der Zustimmungs- als auch der Widerspruchslösung zusammengeführt. Einem Beschluss des Deutschen Ärztetags 2007 folgend arbeitete die BÄK Fragen zur Organtransplantation wissenschaftlich systematisch auf (siehe Fußnote).
Reine Widerspruchslösung ist noch immer sehr umstritten
Dass eine reine Widerspruchslösung auch 14 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vermutlich keine parlamentarische Mehrheit finden würde, bestätigte sich in der Anhörung. Der ehemalige Bundesjustizminister und Verfassungsrechtler Prof. Dr. Edzard Schmitz-Jortzig sagte: „Eine reine Widerspruchlösung oder eine mit Sanktionen belegte Erklärungspflicht hielte vermutlich einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht nicht stand. Das Bundesverfassungsgericht schützt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger auch einen letzten persönlichen Bereich, in dem er sich nicht offenbaren muss.“
Der vom Deutschen Ärztetag verabschiedete Regelungsvorschlag weist deutliche Parallelen mit Entscheidungs- oder Erklärungslösungen auf, für die sich Politiker wie Unionsfraktionschef Volker Kauder und der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier stark machen: Mindestens einmal im Leben soll der Bürger um eine Äußerung zur Organspende gebeten werden. Der erste Schritt wäre eine gute und strukturierte Information. Im zweiten Schritt würde – ergebnisoffen – nach der Bereitschaft zur Organspende gefragt. Der dritte Schritt wäre die Dokumentation des persönlichen Willens in einem Register oder persönlichen Dokument.
Vorschläge, dies könne im Personalausweis oder Führerschein erfolgen, wurden kritisch gesehen. Bundesärztekammerpräsident Dr. med. Frank Ulrich Montgomery betonte, ein medizinischer Kontext für die Erklärung zur Organspende sei sinnvoll, auch weil er die Möglichkeit einer individuellen qualifizierten Beratung einschließe. „Für die Dokumentation eignet sich am ehesten die elektronische Gesundheitskarte, wenn es sie denn gibt. Bei jedem Arztbesuch kann der Versicherte seinen Willen unbürokratisch aktualisieren.“
Entscheidend allerdings für die Frage, ob eine neue Regelung näher an der Widerspruchs- oder der Zustimmungslösung sein wird, ist die Antwort darauf, was bei einer Nichtäußerung geschehen soll: Dürfen dann Organe entnommen werden oder nicht? Schmidt-Jortzig hält es zwar für eine ethisch-moralische Pflicht, eine Erklärung abzugeben, daraus dürfe aber keine rechtliche Pflicht abgeleitet werden.
So sehen es auch die Vertreter der Kirchen. Der frühere Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber, Mitglied des Deutschen Ethikrats, sagte: „Eine Entscheidungslösung ohne einen Zwang zur Äußerung und ohne Organentnahme, wenn keine Zustimmung vorliegt, würde die moralische Pflicht zur Entscheidung unterstützen, ohne sie rechtlich zu erzwingen.“ Der katholische Augsburger Weihbischof Anton Losinger erklärte, nur die Zustimmungslösung garantiere, dass sich der Mensch nach bewusster Willensbildung für eine Organspende entscheide und seine Würde gewahrt bleibe. „Es wäre sinnvoll, die erweiterte Zustimmungslösung mit Informationspflicht im Gesetz zu verankern.“ Huber, aber auch der Medizinrechtler Dr. jur. Oliver Tolmein (Hamburg) wiesen auf starke Parallelen zwischen einer Erklärung zur Frage der Organspende mit einer Patientenverfügung hin, da beide eine künftige medizinische Versorgungssituation beträfen. Es müsse möglich sein, die Entscheidung vorsorglich an Personen des Vertrauens zu delegieren. Außerdem müsse eine informierte Zustimmung zur Weiterführung einer intensivmedizinischen Therapie vorliegen, die dem Organerhalt dient und unter Umständen vor der Hirntoddiagnose erfolgt. Sonst könne eine Patientenverfügung im Gegensatz zur Organspende stehen.
Auseinandersetzung mit dem Hirntodkonzept angeregt
Zur Frage, ob der Hirntod ein sicheres Todeszeichen sei, wurde von einigen Sachverständigen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept gefordert. Nach Auffassung der BÄK gibt es jedoch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das Hirntodkonzept infrage stellen. Der Neurologe Prof. Dr. med. Heinz Angstwurm (München) sagte: „Wir müssen Zweifel in der Bevölkerung und auch in Teilen der Ärzteschaft ernst nehmen. Aber eine aktuelle Umfrage unter allen deutschen Fachgesellschaften, die in diese Frage involviert sind, hat ergeben: Es gibt keine neuen Erkenntnisse, die Zweifel am Hirntodkonzept rechtfertigen würden.“
Deutlich wurde bei der Anhörung, dass der Staat es versäumt hat, ein mit den zuständigen Institutionen abgestimmtes Gesamtkonzept für die Aufklärung der Bevölkerung zu entwickeln, um Menschen in die Lage zu versetzen, eine informierte Entscheidung zur Organ- und Gewebespende treffen zu können.
Es werden nun zwei bis drei interfraktionelle Anträge erwartet, bei der Abstimmung im Bundestag werden die Abgeordneten wie schon 1997 vom Fraktionszwang befreit. Ob die Novellierung der Zustimmung des Bundesrates bedarf, hängt von ihrem Umfang ab. Da die Gesundheitsministerkonferenz sich für eine Entscheidungslösung ausgesprochen hat, werden ihr große Chancen für eine parlamentarische Mehrheit eingeräumt. Im Sommer 2012 muss das novellierte Gesetz in Kraft treten. Dann nämlich läuft die Frist für die Umsetzung der EU-Richtlinie ab.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Middel, C.-D., Pühler, W., Lilie, H., Vilmar, K. (Hrsg.): Novellierungsbedarf des Transplantationsrechts und: Organspende und Organtransplantation in Deutschland, 2 Bände, Deutscher Ärzte-Verlag Köln, 2010 und 2011
konsens der Gesundheitsminister
Die Gesundheitsminister der Länder beschlossen bei ihrer Jahreskonferenz (GMK) am 30. Juni in Frankfurt am Main einstimmig die Forderung, die derzeitige sogenannte Zustimmungslösung durch eine Erklärungslösung abzulösen. Bei diesem Modell sollen alle Bürger ausdrücklich gefragt werden, ob sie Organe spenden wollen oder nicht. Die Menschen sollen bei der Erklärungslösung zu einem bestimmten Zeitpunkt über eine Organspende informiert werden, um sich daraufhin dafür oder dagegen zu entscheiden. Zudem soll die Möglichkeit bestehen, sich vorerst nicht festzulegen. In diesem Fall würden die Ärzte bei einem Hirntod wie bisher die Angehörigen fragen. Die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Malu Dreyer (SPD) sagte, sie hoffe, dass die Entscheidung die Diskussion auf Bundesebene voranbringe. Die ebenfalls diskutierte Widerspruchslösung fand bei der GMK keine Mehrheit.
Einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge fühlt sich die Hälfte der Deutschen nicht ausreichend informiert über das Thema. Drei Viertel der Befragten wären grundsätzlich bereit, nach dem Tod Organe zu spenden, aber nur ein Viertel gab an, die Zustimmung dokumentiert zu haben. AFP/nsi
Geschichte eines Gesetzes
Als das erste deutsche Transplantationsgesetz am 1. Dezember 1997 in Kraft trat, hatte es bereits mehr als 20 Jahre einer wechselvollen Geschichte hinter sich. Alle international diskutierten Möglichkeiten, die postmortale Organentnahme zu regeln, hatten als Entwurf oder Antrag eines Landes- oder Bundesparlamentes schon einmal vorgelegen. Im Mittelpunkt der Kontroversen standen die Grundrechte der Bürger, bei der postmortalen Organspende besonders die Frage, inwieweit die Toten auch für die Lebenden in Anspruch oder sogar „in die Pflicht“ genommen werden können. So hatte das Bundesjustizministerium 1975 vorgeschlagen, die Zulässigkeit der Organentnahme über die Widerspruchslösung zu regeln. Dabei können Organe grundsätzlich dann entnommen werden, wenn der Spender nicht zu Lebzeiten widersprochen hat. 1978 hatte das Kabinett den Entwurf gebilligt, auch die Bundesärztekammer war einverstanden. Aber der Gesetzentwurf scheiterte im Bundesrat. Die Länderkammer hielt den Entscheidungsdruck, der dadurch auf jedem Bürger lasten würde, nicht für angemessen. Danach ruhte das Verfahren.
Im Juni 1994 verabschiedete die rheinland-pfälzische Regierung – quasi im Alleingang – ein Landesgesetz, das die Widerspruchslösung vorsah. Es löste einen Sturm der Entrüstung aus und trat nie in Kraft. Mit einer Änderung des Grundgesetzes (Artikel 74) im November 1994 ging die Gesetzgebungskompetenz von den Ländern auf den Bund über. Ab 1995 kam es zu mehreren Expertenanhörungen vor dem Gesundheits- und vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages.
Schließlich fiel nach einer engagierten Parlamentsdebatte am 25. Juni 1997 die Entscheidung: Eine Mehrheit von circa zwei Dritteln der Abgeordneten sprach sich für die „klassische“ erweiterte Zustimmungslösung aus. Eine Organentnahme soll nach persönlicher Zustimmung des Spenders oder seiner Angehörigen möglich sein. Schweigen gilt in keinem Fall als Zustimmung. Drei Monate später passierte das Gesetz den Bundesrat. nsi
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.