Vom Arztdasein in Amerika
Patienten dürfen nun unsere Arztbriefe lesen
Mittwoch, 14. April 2021
Am 5. April, 2021 trat ein neues Gesetz in Kraft und von jenem Tag an musste Patienten der Zugriff auf ärztliche Dokumente hinsichtlich ihrer Behandlung ermöglicht werden. Damit haben sie, mit wenigen Ausnahmen und hier vor allem im psychiatrischen Bereich und bei Eigen- oder Fremdgefährdungslage, Zugriff auf alle Dokumente die über sie und ihre Behandlung angefertigt wurden.
Da in den USA ärztlicherseits die Pflicht besteht, ein oft mehrseitiges Dokument bei jedem Patientenbesuch zu erstellen, werden also seit diesem Tag Millionen an Dokumenten für Patienten einsehbar.
Wenn ich z.B. Frau Müller wegen einer Lungenentzündung stationär aufnehme, dann erstelle ich ein drei- bis sechsseitiges Dokument als Aufnahmebericht. Jeden Tag, an dem ich sie visitiere, verfasse ich einen ein- bis dreiseitigen Arztbrief über meine Visite und am Entlassungstag einen mehrseitigen Entlassungsbericht – oft als zwischen 10 und 20 Seiten an ärztlicher Dokumentation. All das muss Frau Müller nun zur Einsicht verfügbar gemacht werden.
Wenn ich Dr. Pulmologe konsiliarisch hinzuziehe, erstellt dieser ebenfalls einen mehrseitigen Konsilbefund, wie auch einen ein- bis zweiseitigen Bericht wenn er z.B. eine Lungenspiegelung (oder sonstigen Eingriff) vornimmt. Der Radiologe erstellt einen ein- oder zweiseitigen Befund des Röntgen- oder CT-Bildes und der Pathologe einen Pathologiebericht – auf all das hat nun Frau Müller elektronisch Zugriff, kann also die Befunde von ihrem Bett aus lesen oder ihren Kindern diese zusenden.
Dazu kommen natürlich die Ergebnisse von Bluttests, wie auch Vitalparametern und anderen, in die elektronische Akte eingelesenen Befunden. Die Angehörigen können also hautnah die Behandlung ihrer Liebsten verfolgen, sofern sie von dieser die Erlaubnis und Zugriff hierzu haben. All das führt dann oft zu Fragen und Anrufen bei mir auf Station oder im Arztzimmer.
Im digitalen Informationszeitalter, also einem Zeitalter in dem sehr viel, vielleicht sogar zu viel kommuniziert wird und in welchem wir Menschen mit Informationen regelrecht überflutet werden, hat der Patient nun also Zugriff auf eine weitere Facette seiner Behandlung. In einem Zeitalter, in dem alte Autoritäten zunehmend in Frage gestellt und durch andere Autoritäten wie Google, Wikipedia oder anderen Onlineinformationsquellen ersetzt werden, führt all das zu einer zunehmenden Hinterfragung ärztlicher Autoritäten. So erlebe ich das zumindest in meinem Alltag.
Außerdem führt die vergrößerte Menge an Informationen bei den Patienten und ihren Angehörigen nicht zu einem Gefühl der Sicherheit, sondern eher zu neuen Fragen und einem Gefühl der Unsicherheit.
Wieso schrieb ein Arzt etwas von „Ausschluß eines Karzinoms“ und danach geschah vermeintlich nichts? Weshalb ist das CRP erhöht und im ärztlichen Dokument steht zwar etwas von Entzündungsprozessen, aber niemand scheint hier aktiv zu therapieren? Et cetera.
Wichtig ist auch die Frage, was diese scheinbare Transparenz nun für uns im ärztlichen Alltag bedeutet.
Erstens, wir Ärzte passen den Inhalt unserer Arztbriefe an. Wir erwähnen positive Aspekte häufiger und versuchen negative zu meiden wo möglich.
Zweitens, unsere Sprache wird vereinfacht, denn viele Ärzte wollen vermeiden dass Patienten Unklarheit über ihre Behandlung haben und sie mit unzähligen Fragen aufhalten – eine einfache Sprache kann wiederum nur einfache Sachverhalte ausdrücken, komplexe Sachverhalte hingegen nicht.
Drittens, der Inhalt wird am Interesse des Patienten und weniger an den der Kollegen ausgerichtet, das heißt es geht in den Berichten weniger um die Kommunikation mit anderen Ärzten oder Pflegepersonal als um die Mitteilung an den oft als Laien zu bezeichnenden Leser – dabei ist gerade z.B. ein Konsilbericht vor allem für den um Rat bittenden Arzt wichtig.
Viertens, Ärzte werden noch mehr Zeit bei der Erstellung und Überarbeitung ihrer Dokumente einsetzen, was im Umkehrschluss weniger Zeit im direkten Umgang mit Patienten bedeutet.
Natürlich gibt es viele Befürworter dieses neuen Gesetzes, gerade aus dem nicht-ärztlichen Bereich. Wer beispielsweise den Artikel in der Washington Post zu diesem Thema liest, spürt einen eher positiven Grundton.
In einer Welt, in der gefühlt noch mehr politische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen stattfinden als früher und immer mehr digitale Konzerne sich von einer früher propagierten Transparenz abwenden, ist es natürlich zynisch, wenn in anderen Bereichen dieser Rückgang an Transparenz kompensiert wird.
Außerdem will ich hier ehrlich und offen sein: Ich fühle mich bedroht von dieser Entwicklung. Ich empfinde diese Veränderung als Rückschritt und fühle mich von ihr abgestoßen. Für mich gehört zur Kommunikation auch das Recht nicht alles Gedachte oder Geschriebene mitteilen zu müssen. Doch auch hier gilt: Wir sind immer machtloser im Getriebe des Systems.
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