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Vom Arztdasein in Amerika

Vom Arztdasein in Amerika

Das Staatsexamen wurde 2007 abgelegt, und nicht nur die Frage der Fachrichtung, sondern auch die des Arbeitsortes musste beantwortet werden. Nachdem das Assistenzarztdasein in Frankreich und Deutschland ausprobiert wurde, ging es nach Minneapolis im Jahr 2009. Es schreibt Dr. Peter Niemann über seine Ausbildung zum Internisten (sowie der Zeit danach) und über die Alltäglichkeiten, aber auch Skurrilität eines Arztlebens in USA.

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Vom Arztdasein in Amerika

Die Reanimation meines Sohnes. Oder: Der amerikanische Staat greift hart bei Verdacht auf Kindesgefährdung durch

Donnerstag, 17. Juni 2021

Am 9. Juni, 2021 geschah etwas sehr Dramatisches in meinem Leben. Meine Mutter, die im amerikanischen Bundesstaat Florida lebt, hatte wenige Tage vorher ihren 80. Geburtstag gefeiert und meine Partnerin, unsere drei gemeinsamen Kinder und ich waren dafür angereist.

Der Geburtstag war gut verlaufen, und wir waren in einem etwas abseits gelegenen, sehr schönen Ferienhaus untergekommen. Es umfasste ein großes Grundstück, einen eingezäunten Garten, ein eigenes Schwimmbecken und war mit offenem und zentralem Wohnbereich ausgestattet.

Ich packte meinen Koffer an jenem frühen Nachmittag um um 17 Uhr meinen Flug in den Mittleren Westen zu erreichen. Nebenher spielten und stritten sich die drei Kinder, es herrschte etwas Chaos. Meine Partnerin ging mir zur Hand, es wurde Wäsche gefaltet, etwas geputzt und sonstige banale Details eines Abreisetages.

Ich hatte meinem jüngsten Sohn gerade die Toilettenpapierrolle, an welcher er lutschte und sie auswickelte, aus der Hand genommen und kümmerte mich hiernach wieder um meine anderen Kinder und das Kofferpacken.

Wenige Minuten später stieg ein ungutes Gefühl in mir auf. Es war so still geworden, und ich blickte umher und sah meinen zehn Monate alten Sohn nicht mehr. Das ungute Gefühl verdichtete sich, und ich ging schnellen Schrittes ins Wohnzimmer wo ich die Schiebetür nach draußen, hin zur Terrasse und dem Schwimmbad, offen stehen sah. Wie konnte das sein? Wir hatten die Tür doch abgeschlossen und eine Kindersicherung war auch vorhanden.

Nun, ich wurde fast panisch, rannte hinaus und sah meinen Sohn mit dem Kopf nach unten, regungslos, im Wasser an der Oberfläche treiben. Seine Haut war blass-bläulich verfärbt und er bewegte sich in keinster Weise. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, schrie nach meiner Partnerin und hatte in wenigen Sekunden ihn aus dem Wasser gefischt.

Er atmete nicht, ich spürte keinen Herzschlag, nichts regte sich und er blickte mich mit seinen blauen Augen starr an, eben wie tote Menschen blicken.

Die Emotionalität der Situation muss ich nicht schildern, sie ist für die allermeisten, wenn nicht sogar jeden, nachvollziehbar. Obwohl die Gefühle in mir stark sich regten, übernahm mein über Jahrzehnte medizinisch trainiertes Gehirn die Kontrolle, und kühlen Herzens begann ich mit der Reanimation.

Starkes Klopfen auf den Rücken, manuelle Untersuchung des Rachenraumes nach Obstruktionen, Heimlich-Manöver mit diversen Modifikationen, all das tat ich in den wenigen Schritten hin zum Wohnzimmer, wo ich meinen Sohn auf den Teppich des gefliesten Bodens legte – es war jene harte Oberfläche, die ich für die Reanimation benötigte.

Ich begann sogleich mit der Mund-zu-Mund- bzw. auch -Nase-Beamtung, Thoraxkompressionen, Herzmassage mittels Hand- und dann zwei-Finger-Technik. Nein, ich akzeptierte nicht den Tod meines lieben Kindes, und ich arbeitete hochkonzentriert, nur kurz unterbrochen von meiner Partnerin als sie für wenige Augenblicke übernahm, damit ich den Notruf tätigen konnte da ihr deutsches Telefon das nicht zuließ.

Die Farbe und damit auch das Leben kehrte zurück ins Gesicht unseres Sohnes und aus der Nase und dem Mund ergoß sich immer wieder schwallartig Wasser. Er begann zu atmen, zunächst noch sehr agonal, äußerst unregelmäßig und flach, dann zunehmend tiefer und schneller. Der Puls war spürbar, beschleunigte sich und nach einigen Minuten kamen die ersten leisen Schreie, gefolgt von immer lauteren.

Als die Notfallsanitäter eintrafen, atmete er schon selbständig und ich machte noch einige Minuten weiter mit jenen Handgriffen, die mir nötig schienen, bis mein Sohn wirklich wie ein lebendiges und wieder zum Leben zurückgekehrtes Kind wirkte.

Seine Atmung war stabil genug um nicht intubiert werden zu müssen und der herbeigerufene Rettungshubschrauber landete einige Minuten später, um ihn zum regionalen Zentrum und Kinderkrankenhaus in St. Petersburg mitsamt meiner Partnerin zu fliegen. Dort wurde nur etwas Sauerstoff gegeben und mit Verlaufskontrollen bestätigt, wie sich seine metabolische und respiratorische Azidose normalisierten. Auch das Röntgenthorax wirkte überraschend gut, und er konnte nach 24 Stunden Beobachtung wieder entlassen werden und wirkte schon am Folgetag wie ein normales Kind und als sei nichts gewesen.

Ja, Gott hat unserem Sohn eine zweite Chance gegeben bzw. wer nicht an Gott glauben will oder kann, der möge das durch jenes Wort ersetzen, das ihm als richtig und ausreichend erscheint. Und natürlich verschob ich meinen Flug, wie auch meine Kollegen für mich für mehrere Tage bei meiner Arbeit einsprangen. Mein Verlag akzeptierte die Verschiebung meines Abgabetermines und alles schien gut gelaufen.

Doch was dann erfolgte, hatte ich nicht erwartet. Schon während der Reanimation rückte die Polizei an, wenige Stunden später auch das amerikanische Jugendamt, eine Unterabteilung der bundesstaatlichen Exekutive, ausgestattet mit polizeiähnlicher Funktion.

Dieses „Child Protective Service“ verhörte jeden der Beteiligten, einschließlich der älteren Kinder, allesamt einzeln, kam um Mitternacht noch in der Nacht der Reanimation im Krankenhaus wie auch dem Haus meiner Mutter (wo ich an jener Nacht mit den beiden älteren Kindern geblieben war), weckte uns aus dem Schlaf, um uns erneut zu verhören und die Kinder sehen zu wollen.

Auch die Polizei verhörte jeden von uns mehrmals, das gesamte Haus wurde noch während der Behandlung und dann Verlegung meines wiederbelebten Kindes abgesperrt und dann forensisch von einer Spezialabteilung untersucht und photografiert.

Wir wurden Drogentests unterzogen und man versorgte meine während der Reanimation mir zugezogene Wunde am Knie (vom Knien auf dem Teppich als Abrieb entstanden) zwar nicht medizinisch, machte aber akribisch Notizen und Bilder falls es sich hierbei um Folgen von Gewaltanwendung handelte.

Mit anderen Worten wurden wir als mögliche Kriminelle behandelt. Obwohl meine bzw. unsere Erklärung der vorgefallenen Ereignisse sehr stichhaltig und nachvollziehbar waren, wurden wir von jeder Seite aus evaluiert.

Ja, unser Sohn war ins Schwimmbad gefallen trotz unserer Sicherheitsmaßnahmen, doch wer Kinder hat, der weiß, dass sie trotz Schranken die Treppe hinunterfallen, trotz Plastikstecker in die Steckdose fassen oder eben trotz 100 % sicher scheinenden Sicherungsmaßnahmen an Tür und dem Schwimmbad ins Wasser fallen können. „Das Leben ist Risiko“, schrieb schon der deutsche Pathologe Rudolf Virchow im 19. Jahrhundert.

So wurde ich wegen der schon vor Ort beginnenden Verhöre von meinem Sohn und den Rettungssanitätern ferngehalten. Ich verlor Schlaf und wir hatten so manche unangenehme Frage und Situation auszustehen. Der Staat hatte meinen Sohn zwar nicht gerettet, aber die gesamte Situation an sich gezogen und arbeitet seither an seinen vielen Berichten, die ich wohl eines Tages erhalten werde.

Ich denke es wird keine Strafe geben, aber ich bin doch erstaunt mit welcher Macht er in das Leben von uns Familien hineingreifen kann.

LNS
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