Lesefrüchtchen
Hans J. Sewering, hoch gestiegen, tief gefallen
Freitag, 25. Juni 2010
Mit Professor Hans Joachim Sewering, der heute in seiner Heimat Dachau beerdigt wird, tut sich die Ärzteschaft schwer, sehr schwer. Würdigen oder vergessen? Würdigen als großen Ärztepolitiker, oder vergessen, um endlich die Zentnerlast loszuwerden, die S. der Ärzteschaft auferlegt hat. Zweifellos, S. war über Jahrzehnte der mächtigste Standespolitiker der Ärzte in der alten Bundesrepublik. Dafür sorgten Ämterkumulation – in Bayern die Doppelspitze in Kammer und KV, im Bund Vize –, schließlich Präsident der Bundesärztekammer, um nur die wichtigsten Ämter zu nennen – und analytische Gabe gepart mit Machtinstinkt.
1978 der Sturz. Der Deutsche Ärztetag zwang S. zum Rücktritt. In Bayern hielt er sich noch bis 1991 (Kammer) und 1992 (KV). Ursächlich für den gestuften Abstieg waren nicht allein die NS-Verwicklungen, die in der Öffentlichkeit mit Sewerings Namen zuverlässig assoziiert werden. Den Ärztetag störte ein anhaltender Streit mit den bayerischen AOK wegen der kreativen Nutzung eines Mammomaten in S. Lungenarztpraxis. Und die Bayern waren am Ende die fast 40-jährige Herrschaft ihres "Königs von Bayern" leid.
Die NS-Geschichten flackerten im Untergrund. Die schon als sicher geglaubte Wahl zum Präsidenten des Weltärztbundes scheiterte 1993 indes eindeutig an der NS-Vergangenheit von S. Bruchstückhaft war über Jahre herausgekommen, dass S. nicht nur früh der NSDAP, sondern auch der SS angehört hatte. Vor allem aber, dass er in den 1940er Jahren behinderte Kinder aus der Anstalt Schönbrunn in die Nervenklinik Haar überwiesen hatte, wo sie, vermutlich Opfer der Euthanasie, alsbald zu Tode kamen. S. hat bis zum Schluss bestritten, Patienten der Euthanasie ausgeliefert zu haben. Die Nachforschungen halten an.
Diese Biografie eines ihrer hervorragenden Repräsentanten belastet die Ärzteschaft bis heute. Das hinderte nicht, S. 1992 mit der Paracelsus-Medaille auszuzeichnen und zum Ehrenmitglied des BÄK-Vorstands zu wählen, ein Amt, das S. bis in seine letzten Jahre aktiv wahrnahm. Noch 2008 verlieh ihm der Berufsverband der Internisten ungerührt und zum Protest der DG die Budelmann-Medaille. Ehrungen wegen der berufspolitischen Verdienste. Vielleicht aber auch Trotzrekationen auf die anklagende öffentliche Meinung, Solidarbekundungen wie sie ja auch aus anderen hierarchisch geprägten, geschlossenen Gemeinschaften bekannt sind.