Vom Arztdasein in Amerika
Die $4-Dollarliste (Teil Zwei) stößt an ihre Grenze
Mittwoch, 15. Februar 2012
Jüngst kam ein von mir regelmäßig
betreuter 41-jähriger Patient in die Praxis für seinen Routinebesuch. Obwohl er
auf wirksame Medikamente eingestellt ist – allesamt von der $4-Dollarliste –
war sein Blutdruck 195 zu 112. Er gab zu, sie nicht genommen zu haben und nannte
Geldmangel als Grund. Das tut er bei jedem Praxisbesuch, und ich hatte in der
Vergangenheit geglaubt, dass ein konsequentes Umstellen auf Billigmedikamente
das Argument obsolet machen würde. Das war falsch gedacht, denn erneut sagte er
mir: „Herr Doktor, ich kann mir die Medikamente nicht leisten, ich muss das
Geld für meine 17-jährige Tochter sparen, denn sie erwartet ihr zweites Kind
und braucht Unterstützung von mir”.
Wenn man die Geschichte
hierbei belassen würde, dann könnte mein Patient mit Präsident Obama wohl im
Wahlkampf auftreten. Mein Patient erzählt seine Geschichte nämlich derart
routiniert und eloquent, dass man sie gerne als Beispiel nehmen möchte, wie unbezahlbar
das US-Gesundheitssystem für arbeitslose, chronisch kranke Menschen wie ihn
ist, und wie ungerecht es sei, noch dazu wenn sie, wie er, schwarz sind.
Doch ich hakte dieses Mal
nach und ließ mir seine Finanzlage
en
detail schildern: Seine fünfköpfige Familie leben in einem staatlich
bezahlten Haus. Ihre Krankenversicherung ist Medicaid, also staatlich bezahlt,
und seine Medikamentenzuzahlungen bewegen sich meistens im Centbereich. Selbst
wenn er die Medikamente aus eigener Tasche bezahlen müsste, wären es wohl zehn
bis zwölf Dollar im Monat.
Er ist arbeitslos und erhält
entsprechend Arbeitslosengeld in Höhe von knapp $1300 monatlich, 99 Wochen lang,
danach staatliche Unterstützung ähnlich dem deutschen Hartz-IV. Seine Frau erhält
ebenfalls Arbeitslosengeld, knapp $900 monatlich. Er erhält noch weitere Kleinigkeiten
wie Nahrungskreditkarten (“food stamps”) und Nebenkostenbezuschussung.
Er ist also nicht
mittellos wie er es in seiner Eloquenz mir gegenüber jedes Mal darstellt. Das
Umstellen auf die $4-Dollarliste war leider nicht die Lösung, es gibt andere Gründe
für seine Behandlungsuntreue (“non-compliance”). Doch was machen wenn seine
Gesundheit für ihn keine hohe Priorität hat? Einmal schlug ich meinem Oberarzt
vor, dass ich ihm eine $20-Dollarnote geben würde; woraufhin mich der Oberarzt fragte, ob ich mir sicher sei,
dass er die Medikamente damit kaufen würde.
Es bleibt mir nichts übrig
als ihn – vom US-Staat bezahlt – weiterhin in meiner Praxis zu sehen und
regelrecht zu bitten, dass er seine Medikamente einnimmt. Ihn darauf aufmerksam
zu machen, dass die meisten seiner Erkrankungen reversibel, weil selbst
verschuldet sind: Massive Adipositas (KMI von 46), Tabakkonsum, Schlaf-Apnö-Syndrom,
Hypertonus, Diabetes, Kardiomyopathie.
In solchen Fällen weiss
ich nicht weiter: Höhlt steter Tropfen wirklich den Stein? Was kann man denn
noch mehr machen für meinen Patienten? Weiterhin eine moralische Frage: Wie
weit sollte eine Gesellschaft gehen, um solch ein Gesundheitsverhalten, solch
einen Raubbau an der eigenen Gesundheit, zu bezahlen?