Vom Arztdasein in Amerika
Wir arbeiten zu wenig!
Donnerstag, 14. Juni 2012
Im
März des Jahres 1984 verstarb die 18-jährige Studentin Libby Zion in
einem New Yorker Krankenhaus am Serotoninsyndrom. Die sie betreuenden Ärzte,
eine Assistenzärztin im 1. Jahr ihrer Ausbildung, Luise Weinstein, und der ihr
übergeordnete Assistenzarztkollege Gregg Stone, im 2. Jahr seiner Ausbildung, wurden USA-weit berühmt als
Folge der sich nach dem Tod Libby Zions jahrelang anschließenden juristischen und
medialen Gefechte.
Libby Zion hatte am Tag vor ihrer Aufnahme, Kokain und ihr tägliches Antidepressivum Phenelzin
zu sich genommen. Im Laufe des
Aufnahmemorgens hatte sie Fieber und Myalgien entwickelt. Ihr Hausarzt Dr. Raymond Sherman ließ sie zur symptomatischen Therapie und
Hydrierung stationär aufnehmen. Die beiden oben genannten Assistenzärzte nahmen
sie in jener Nacht auf und betreuten neben ihr mehrere Dutzend andere
Patienten; sie waren im früher üblichen 36-Stundendienst.
Diese Faktoren wurden
später auch als Teilursache für den Tod Zions angesehen: Denn als die junge Patientin
im Laufe der Nacht neben Fieber auch noch Muskelzuckungen entwickelte, wurde
telefonisch das Antipyretikum Meperidin verschrieben; im Laufe der Nacht wurde
sie zunehmend agitiert, woraufhin erneut telefonisch Therapien verschrieben
wurden: Bettfesseln wurden angelegt und Haloperidol gegeben. Zum Teil wegen all
dieser Interventionen und ohne größere ärztliche Evaluierung verschlechterte
sich der Zustand der Patientin zunehmend mit Anstieg des Fiebers auf mehr als 42 Grad Celsius; sie verstarb weniger als 24
Stunden nach Aufnahme an kardiovaskulärem Versagen.
Der
Vater der jungen Frau war nicht nur Journalist, sondern auch Rechtsanwalt. So folgte das, was in den USA oft passiert: Ein Gerichtsverfahren wurde
gegen alle beteiligten Ärzte und das Krankenhaus eingeleitet. Es zog sich über
viele Jahre hin, schlug sehr hohe Wellen und ging durch einige Instanzen; an
dessen Ende stand neben diversen Geldzahlungen auch eine Reform des
Arbeitszeitgesetzes für Assistenzärzte in den USA, das 2003 offiziell eingeführt wurde.
Seither ist es Assistenzärzten nicht gestattet, länger als 80 Wochenstunden zu
arbeiten (maximal 28 Stunden am Stück), und sie müssen mindestens 24 Stunden am
Stück pro Woche frei haben. Ich habe in einem vergangenen Blogbeitrag hierauf
schon hingewiesen (siehe “Die fachärztliche Ausbildung wird nicht schlechter”).
Nun
ist im New England Journal of Medicine Ende Mai eine Befragung unter
Assistenzärzten genau zu diesem Thema veröffentlicht worden (Drolet BC et al
“Resident’s response to duty-hour regulations – a follow-up national survey”,
NEJM 2012 May 30, e35(1-4)). Interessanterweise ist die Mehrheit der
Assistenzärzte nicht so zufrieden mit den Arbeitszeitbegrenzungen und
–regelungen wie man es sich zunächst denken mag: Sie haben das Gefühl, weniger
zu lernen als früher und empfinden nicht unbedingt eine Verbesserung ihrer Freizeit. Man könnte plakativ sagen: Sie wollen wieder mehr arbeiten. Das
Bruttosozialprodukt wird sich freuen.