Gesundheit
E-Visite: Virtueller Arztbesuche als Kostenfalle
Mittwoch, 21. November 2012
Die meisten Patienten haben heute einen Internetanschluss
und viele würden ihn gerne für die Kommunikation mit dem Arzt nutzen. Die
Möglichkeiten beschränken sich dabei keineswegs auf eine Teminabsprache per
E-Mail. Sogenannte Patientenportale ermöglichen den Patienten einen direkten
Zugriff auf die persönliche Krankenakte mit Diagnosen, Medikationslisten und
den Ergebnissen von Labor und bildgebenden Verfahren. Über Patientenportale
können Untersuchungstermine vereinbart oder auch Medikamentenrezepte erneuert
werden, ohne dass dazu ein Besuch im Sprechzimmer notwendig wäre. Experten
schätzen, dass bis zu 70 Prozent aller „face-to-face“-Kontakte mit dem Arzt
entfallen könnten.
Patientenportale können und werden in Zukunft die
hausärztliche Versorgung verändern, ob zum Guten oder zum Schlechten, ist
allerdings offen. Die Erfahrungen, die die US-Krankenkasse Kaiser Permanente
gemacht hat, sind jedenfalls durchwachsen. Seit 2004 gibt es dort das Angebot
„KP HealthConnect“, es wurde 2006 zum Portal „MyHealthManager“ erweitert. Doch
die erhofften Entlastungen für die Ärzte (und damit Einsparungen für die
Krankenkasse) haben sich nicht eingestellt, wie eine retrospektive Auswertung
von über 87.000 Patienten zeigt, die in den letzten Jahren die Möglichkeiten
der Patientenportale nutzten.
Wie Ted Palen vom Institute for Health Research von Kaiser
Permanente Colorado in Denver und Mitarbeiter berichten, kam es nicht seltener,
sondern häufiger zu „face-to-face“-Kontakten mit dem Arzt. Auch die
Telefonkontakte nahmen zu. Schlimmer: Die Patienten wurden häufiger außerhalb
der Sprechzeiten behandelt und selbst die Zahl der Notfallaufnahmen in der
Klinik stieg an.
Die Studie kann keine Auskunft darüber geben, ob diese
zusätzlichen Termine berechtigt waren. Zu befürchten ist, dass die abendliche
Lektüre der eigenen Krankenakte bei vielen Patienten Ängste ausgelöst hat, die
dann zu einem unmittelbaren Arztkontakt führten. Bei einigen Patienten könnte
es auch zur Somatisierung persönlicher Probleme gekommen sein, die dann
entsprechend lange therapeutische Gesprächen nach sich ziehen.
E-Visiten könnten auch das Verordnungsverhalten der Ärzte
verändern, wie die Medizinische Hochschule der Universität Pittsburgh erfahren
musste. Ateev Mehrotra berichtet, dass nach den virtuellen Patientenkontakten
die Rate der Antibiotikaverordnungen bei Sinusitis und Harnwegserkrankungen
angestiegen ist. Mehrotra führt dies auf ein vermehrtes Sicherheitsdenken
zurück. Da die Ärzte sich keinen persönlichen Eindruck vom Patienten
verschaffen konnten, verordneten sie vorsichtshalber ein Antibiotikum.
Interessant wäre die Frage, welchen Einfluss die E-Visiten
auf die Behandlungsqualität haben. Ein häufigerer Arztbesuch oder die
steigenden Verordnung von Antibiotika deutet zwar darauf hin, dass viele
Behandlungen unnötigerweise erfolgten. Klären ließe sich das allerdings nur
durch randomisierte Studien, bei denen der Gesundheitszustand der Patienten mit
„harten“ Endpunkten bewertet wird.