Vom Arztdasein in Amerika
Der Patient als juristische Gefahr – Teil II
Donnerstag, 6. Dezember 2012
Als ich diesen Artikel verfasste, war eine Patientin
erst vor wenigen Stunden in meiner Anwesenheit verstorben. Seither dachte ich
mehrmals mit Schrecken an einen Rechtsanwalt und das juristische System.
Was war passiert?
Die Patientin war 84 Jahr alt, dement und mit rezidivierender
Aspirationspneumonie jüngst aufgenommen und nach längerem Aufenthalt mit verbessertem Zustand in ein
ambulantes Hospiz entlassen worden. Nach wenigen
Tagen wurde sie – trotz Hospizstatus – wieder ins Krankenhaus aufgenommen – erneut mit der Diagnose Aspirationspneumonie. Ich übernahm den Fall am
fünften Krankenhaustag von einem Kollegen und setzte die Behandlung
entsprechend fort. Mittlerweile waren komplizierend tachykardes
Vorhofflimmern und Nierenversagen hinzugekommen.
Trotz Dosisreduktion des Beta-Blockers und Kalziumantagonisten
bei ansteigenden Nierenwerten glitt mir die Patientin in einen bradykarden
Kammerrhytmus ab, und weder das Spritzen von Atropin, Kalzium, Glukagon und
allerlei anderer Medikamente vermochte diese Bradykardie zu verbessern. Einen
externen Schrittmacher durfte ich laut ihrer Patientenverfügung nicht benutzen,
wie wir auch keine Wiederbelebung oder Intubation durchführen durften.
Die Patientin wurde zunehmend lethargisch – zuletzt
Glasgow-Koma-Skala von 4 – und aspirierte mehrmals laut Pflege, um dann
vor meinen ärztlichen Augen in die Nullinie der Asystolie überzugehen. Ich
hatte natürlich mehrmals im Laufe des Tages mit den Angehörigen telefonisch
gesprochen, und sie traten in jenem Moment der Asystolie in das Patientenzimmer
ein.
Es herrschte Trauer, Wut und Unglaube im Raum. Wir
besprachen uns mehrmals im Laufe der nächsten Stunden, und es fielen viele
Anschuldigungen gegen das Krankenhaus und die Ärzte. Die Patientin hatte am
Vortag eine Influenzaimpfung erhalten, und es wurde der Vorwurf
erhoben,
sie sei daran verstorben. Einer der Töchter zeigte mir einen Schein, auf dem als Allergie „Influenzaimpfung” vermerkt war. Die Drohung
einer juristischen Auseinandersetzung wurde mehrfach geäuβert und die Arztnamen
inklusive meinem aufgeschrieben, wie auch die gesamte wohl 500-seitige
Patientenakte angefordert. Sie meinten es wohl ernst.
Ich ging bedrückt nach
Hause, Stunden jenseits meines Feierabendes. Nicht nur, dass die Patientin gestorben war, nun auch
solche Drohungen... Juristisch ist es zwar nicht wahrscheinlich, dass der Fall erfolgreich
bestehen würde, aber der psychologische Druck ist immens und das Gefühl sehr
belastend, dass man trotz aller richtigen Maßnahmen verklagt werden könnte. Klar ist: Sollte
ein Jurist diesen Fall annehmen, dann muss er ein unmöglicher Vertreter seines Faches.