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Sea Watch 2

Sea Watch 2

"Für knapp drei Wochen tausche ich die gewohnte Umgebung 'meiner' Intensivstation mit einem Schiff, das auf dem Mittelmeer zwischen Malta und der libyschen Küste patroulliert, um dort in Seenot geratene Flüchtlingsboote aufzuspüren und Schiffbrüchige zu retten. Mit 15 weiteren Aktivisten bin ich Teil der 13. Crew der Sea Watch 2.

Dr. med. Alexander Supady
(Facharzt für Innere Medizin, Notfallmedizin
Universitäts-Herzzentrum Freiburg
Universitätsklinikum Freiburg).

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Sea Watch 2

Abschied vom Schiff

Freitag, 4. November 2016

Montag, 31.10.2016

Abschied vom Schiff
Vermutlich wäre es möglich, Wochen auf dem Schiff mit Aufräumen und Reparaturen zu verbringen, vielleicht sogar noch länger. Am Morgen wühlen wir uns wieder durch die verschiedenen Decks. Wir zählen und verpacken noch übriggebliebene Schwimm­westen, räumen unsere Sachen in den Kajüten zusammen und packen unsere Taschen, wir putzen, wieder wird Wäsche gewaschen und aufgehängt und Peter schuftet unermüdlich im Maschinenraum; er ist seit Tagen damit beschäftigt, einen Schalter an einem der Generatoren zu reparieren, so dass dieser wieder zuverlässig läuft.

Da die ‚Phoenix’, das große Rettungsschiff von ‚MOAS’, am Morgen ausläuft, können wir ihren Liegeplatz übernehmen, der weit komfortabler direkt an der Pier liegt, so dass wir leicht das Land erreichen können und das Be- und Endladen weniger mühevoll ist.

Um zwölf Uhr kommt die neue Crew und wir übergeben die verschiedenen Bereiche. Bianca, Barbara und ich übergeben die Krankenstation. Das neue Medical-Team, wieder eine Ärztin, ein Arzt, eine Krankenschwester, schaut sich interessiert die Ausstattung an, fragt nach unseren Einsätzen und Aufgaben. Es ist ein sonderbares Gefühl, unser gemeinsames Zuhause der vergangenen Wochen, an das wir uns so gewöhnt haben, in dem wir so sicher aufgehoben waren und das uns so gute, so zuverlässige Dienste bei unserer Arbeit geleistet hat so bereitwillig abzugeben, so einfach aufzugeben, so einfach anderen Menschen zu überlassen.

Und doch ist es gut, dass unser Einsatz und unsere Zeit auf dem Schiff nun zu Ende sind. Wir alle sind keine Profis in dem, was wir in den vergangenen zwei Wochen gemacht haben, die meisten waren um ersten Mal für längere Zeit auf See, viele kamen zum ersten Mal in den direkten Kontakt mit Toten, mussten Menschen vor den eigenen Augen sterben sehen. Wir haben Berufe, in die wir nun zurückkehren, und wir haben Familien, die uns brauchen und für die wir eine Verantwortung tragen. Unsere Familien haben uns bestärkt und unterstützt darin, diese wichtige Aufgabe, die wir übernommen haben, leisten zu können, aber nun ist es Zeit zu Ihnen zurückzukehren.

Wir werden oft an diese intensive Zeit zurückdenken. Wir werden von unseren Erlebnissen erzählen, wir werden Berichte schreiben, Fotos veröffentlichen. Wir werden einen anderen Blick haben auf die Nachrichten über Flüchtlinge, über Flucht und Migration, Asyl und Grenzsicherung, Rücknahmeabkommen und sichere Herkunfts­staaten, denn für uns sind dies nun keine abstrakten Fragen mehr, keine technischen Probleme. Denn wir haben Bilder von realen Menschen vor Augen, wir erinnern uns an die Frauen, die sich allein mit ihren Kindern auf den langen, gefährlichen Weg machen, der sie über mehrere Monate von Nigeria nach Libyen führen wird und dort an einen Strand, mitten in der Nacht, gemeinsam mit mehr als hundert anderen Menschen, Fremden, mit denen sie schließlich in ein mehr als sechs Meter langes Schlauchboot steigen werden.

Die Boote sind so dicht gefüllt mit Menschen, dass sie keinen Platz haben, sich zu regen, dass sie darauf achten müssen, ihren Kindern ausreichend Platz zu erkämpfen, dass diese nicht erdrückt werden oder ersticken. Dazu kommt auf dem Boden eine gefährlich ätzende Mischung aus Salzwasser und Benzin, die auf ihrer Haut schmerzhaft brennt, sowie zentimeterhoch ragende Schrauben, die die Bodenplatten miteinander verbinden und wie gefährliche Spieße hervorragen.

In diesen Booten sind sie auf dem Weg zu einem ungewissen Ziel, viele finden dabei den Tod durch Ersticken oder Ertrinken. Wir denken an die Männer, die sich auf diese Irrfahrt begeben, weil sie von ihren Familien auserkoren wurden, in Europa ihr Glück zu versuchen, gutes Geld zu verdienen, von dem sie möglichst viel an ihre Familie in der Heimat zurückschicken sollen. Sie alle haben keine Vorstellung von den tödlichen Gefahren, denen sie sich aussetzen, von den Torturen, die sie auch noch erwarten, wenn sie ihr Ziel bereits erreicht haben und sie europäischen Boden unter den Füßen haben.

Wir werden an gemeinsame Erlebnisse zurückdenken, an die Menschen, die wir gerettet haben, an gemeinsam erlebte Schrecken, an die Freude, die wir empfunden haben, an besondere Momente und Augenblicke, und wir werden uns an unsere Kameraden erinnern, die gesamte Crew, mit der wie diese unglaubliche Zeit verbracht haben.

Mit ein wenig Abstand wird sich unsere Erinnerung an die Erlebnisse wandeln. Einiges wird in den Hintergrund treten und wir werden es vergessen, andere Erinnerungen werden sich festigen und ihre Konturen schärfen und so zu einem festen Bestandteil unseres Inneren werden, der unsere zukünftige Wahrnehmung beeinflußt, unsere Einstellungen formt und unser Verhalten bestimmt.

Am Nachmittag, wir haben unsere Kajüten bereits geräumt und der neuen Crew überlassen und sind wieder in das Sea Watch Camp in der urigen Burg am Yachthafen eingezogen, finden wir uns noch einmal zu einer Nachbesprechung zusammen. Der Verein ‚Sea-Watch’ achtet sehr darauf, dass die Crews vor und nach den Einsätzen von Experten der ‚Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen’ unterstützt werden. Wir unterhalten uns noch einmal über unsere Erlebnisse, wir teilen unsere Wahrnehmungen verschiedener Ereignisse und Momente, die wir zusammen erlebt haben, jedoch jeder aus einer anderen Perspektive, in einer anderen Position.

Später treffen wir uns mit der neuen Crew zum Abendessen in einem Restaurant in der Nähe. Morgen ganz früh werden die ersten von uns zum Flughafen fahren und die Insel verlassen.

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