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Zurück zu einer sachlichen Diskussion über Flucht und Migration und Menschenrechte
Montag, 9. Juli 2018
Die Medien sind momentan nicht das Problem. In der aktuellen Diskussion um die Situation der Flüchtlinge und Migranten auf dem Mittelmeer werden die Medien ihrer Aufgabe einer kritischen und differenzierten Berichterstattung gerecht. Alle großen Medien berichten regelmäßig auch auf ihren Titelseiten und auf den Startseiten ihrer Onlineauftritte über die aktuellen Entwicklungen, über die Odyssee der „Aquarius“, die mit Hunderten aus Seenot geretteten Menschen an Bord zunächst keinen Hafen fand, in den sie einlaufen konnte, bis sie schließlich den langen Weg nach Spanien auf sich nehmen musste, um die Menschen in Valencia endlich an Land gehen zu lassen, über die Beschlagnahme ziviler Rettungsschiffe in Italien und auf Malta, über Auslaufverbote aus dem Hafen von Valletta, über den Prozess des Kapitäns der vorerst letzten Mission der „Lifeline“, der sich nach der erfolgreichen Rettung von 234 Menschen nun aufgrund offensichtlich vorgeschobener Registrierungsfragen des Schiffes vor einem maltesischen Gericht verantworten muss. In den Kommentarspalten kritisieren die Kommentatoren überdies den herzlosen Umgang der Europäer mit Menschen in höchster Not. Analogien aus jedermanns Alltag werden bemüht, um die Dringlichkeit und die Selbstverständlichkeit der Rettung von Menschen aus höchster Not zu belegen, während Ratlosigkeit darüber geäußert wird, dass diese Situation in breiten Gesellschaftsschichten so wenig Verständnis und Mitgefühl hervorruft.
Die meisten Europäer sind keine kaltherzigen Monster, denen die Berichte über immer mehr Tote, die bei dem Versuch ertrinken, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren, lediglich ein nüchternes Schulterzucken entlocken. Und doch ist es so, dass eine Politik breite Zustimmung findet, die auf Abschottung setzt, dass Politiker hoffähig sind, die Menschen in höchster Not als „Menschenfleisch“ beschreiben (Matteo Salvini über die Geretteten auf der „Lifeline“), dass ohne breiten Widerspruch akzeptiert wird, wenn der deutsche Innenminister fordert, wie dies von einigen Medien berichtet wurde, dass die Crew der „Lifeline“ zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Wofür? Für die Rettung von Menschen vor dem Tod durch Ertrinken? Für die Weigerung, diese Menschen an libysche Kräfte zu übergeben, obwohl bekannt ist, dass den Menschen in Libyen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, Gefangenschaft und Tod?
Die Diskussion über Flucht und Migration, über Asyl und Einwanderung, über Grenzsicherung und Seenotrettung von Flüchtlingen und Migranten auf dem Mittelmeer, über Humanität und Menschenrechte ist an einen Punkt gelangt, an dem nicht mehr offen und konstruktiv Argumente ausgetauscht werden, Positionen entwickelt, kritisiert und hinterfragt werden, sondern Vorwürfe, Rechtfertigungen, Rechthaberei und Polemik die Oberhand gewonnen haben.
Die Protagonisten auf beiden Seiten – diejenigen, die für offenen Grenzen eintreten, für eine offene Asyl- und Migrationspolitik, und diejenigen, die einen verstärkten Grenzschutz und verstärkte Grenzsicherungsmaßnahmen fordern und eine restriktive Asyl- und Abschottungspolitik verfolgen – stehen sich unversöhnlich gegenüber und es scheint, als ergötzten die einen sich darin, die anderen durch immer neue Vorschläge, Argumente und Ideen zu provozieren und zu diskreditieren.
Während die Protagonisten der Abschottung immer schärfere Grenzsicherungsmaßnahmen, immer effektivere Abwehr- und Rückführungsmaßnahmen für Flüchtlinge und Migranten vorschlagen, wird auf der anderen Seite mit moralinsauren Vorwürfen gekontert. Die Grenze zwischen Aufnahmewilligen und denjenigen, die sich abwehrend äußern und verhalten, verläuft dabei mittlerweile in unruhigen Linien durch die verschiedenen Parteien (nur nicht in der AfD, die sich bisher in verlässlicher und verächtlicher flüchtlingsfeindlicher Geschlossenheit geäußert hat).
In ihrer Hilflosigkeit ergreifen einige Diskutanten den vermeintlich sicheren Anker der Forderung nach „Fluchtursachenbekämpfung“ als Lösung für alle Probleme – ohne hier jedoch konkrete Ideen oder tragfähige Lösungen anzubieten: Denn weder der bereits vor mehr als einem Jahr vorgestellte „Marshallplan für Afrika“ der Bundesregierung, noch eine Reduktion der Ausgaben des Bundes für internationale Entwicklungshilfe werden hier in absehbarer Zeit Erfolge zeigen, die Menschen in Ländern niedriger und mittlerer Einkommen (low- and middle-income countries, LMICs) davon abhalten werden, ihr Glück in den wohlhabenden Staaten Europas zu suchen.
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Was wir brauchen, ist eine offene und sachliche Diskussion über den Umgang mit Menschen in Not und über unsere Verantwortung ihnen gegenüber. In dieser Diskussion gilt es zu berücksichtigen, dass die Herkunftsländer der Menschen, die auf dem Mittelmeer zu Tausenden ertrinken, die beim Durchqueren der Sahara verdursten, die zu Hunderttausenden in Lagern in Jordanien, im Libanon oder in Kenia mehr ausharren als leben, die von Schleppern betrogen, misshandelt und bedroht werden, nicht nur Länder sind, in denen erbarmungslose Kriege wüten wie im Südsudan, in Somalia oder in Syrien, sondern auch Länder, die in einer Armutsfalle feststecken, in die wir sie gelockt haben und in der wir sie festhalten aufgrund der Ungerechtigkeiten der globalisierten Wirtschaft, aufgrund unfairer Zollvereinbarungen, Handelsbeschränkungen und Subventionen.
Wir brauchen eine offene und sachliche Diskussion ohne Voreingenommenheit und Feindseligkeit, denn nur wenn wir die Position der Gegenseite respektieren, können wir Respekt für unsere Positionen erwarten. Wir brauchen eine offene und sachliche Diskussion, die schmerzhaft wird für beide Seiten, denn nur mit schmerzhaften Eingeständnissen werden wir zu einer Einigung gelangen können. Jeder wird Positionen aufgeben müssen, um an anderer Stelle ein Einlenken der Gegenseite erwarten zu können.
Jedem realitätsverwurzelten Beobachter wird klar sein, dass eine Politik der vollkommen offenen Grenzen genauso wenig durchsetzbar und aufrechtzuerhalten ist, wie die momentane Maximalposition des Aufbaus einer hermetisch abgeriegelten „Festung Europa“. Beide Positionen haben berechtigte Argumente, andere Argumente sind verhandelbar. Auf dem Weg zu einer nachhaltigen, humanitären und gerechten europäischen Flüchtlings-, Migrations-, Grenz-, Asyl- und Einwanderungspolitik ist es nun dringend geboten, dass alle Seiten miteinander und nicht nur übereinander sprechen und bereit sind, sich aufeinander zuzubewegen. Andernfalls werden immer mehr Menschen sterben – in den armen Ländern des „globalen Südens“ und auf der Flucht aus ihrer Heimat in Richtung Europa. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Mehrheiten in unseren Gesellschaften die Verantwortung für diese Tode dauerhaft zu tragen bereit sind.
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