Global Health
Was schulden wir Menschen in Not?
Freitag, 27. Juli 2018
Was schulden wir Menschen in Not? Schulden wir ihnen überhaupt etwas? Gibt es ein Gesetz oder zumindest eine unumstößliche Regel, nach denen wir verpflichtet wären, Menschen in Not zu helfen? Oder ist es nur Humanität, ist es nur Mitleid, ist es nur Mitmenschlichkeit, die uns antreiben, Menschen in Not Hilfe zu leisten? Die Antwort auf diese provokante Frage scheint klar, die Frage selbst wohlfeil. Natürlich, werden die meisten erwidern, haben wir eine Verpflichtung zu helfen, natürlich gibt es dafür Gesetze und Regeln.
Gewiss hängt die Antwort auf diese Frage auch davon ab, um welche Art Not es sich handelt. Sicherlich sollten wir einem Menschen unsere Hilfe anbieten, dessen Auto mit einer Panne liegen geblieben ist, wir könnten ihm anbieten, den Abschleppdienst zu rufen oder ihn bis zum nächsten Ort in unserem Auto mitnehmen. Es wäre jedoch kein Gesetzesbruch, in diesem Fall die Hilfe zu verweigern, an dem Mann mit seinem kaputten Auto vorbeizufahren und darauf zu hoffen, dass jemand anderes zu Hilfe kommen wird oder er sich selbst helfen kann. Sicher ist dies anders, wenn wir Zeuge eines schweren Unfalls werden und wir befürchten müssen, dass dabei Menschen verletzt wurden, womöglich gar in Lebensgefahr schweben. Wir sind verpflichtet zu helfen, und sollten wir diese Hilfe verweigern, machen wir uns einer Straftat schuldig.
Oft ist die Not jedoch weniger nah, dabei jedoch nicht weniger drängend, nicht weniger akut, und dennoch fällt es uns leichter, sie von uns zu weisen. Wir alle wissen von der Not der Menschen im Krieg – in Syrien, in Afghanistan oder in Somalia. Wir wissen von der Not der Menschen, die hungern und keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben oder die in Ländern leben, in denen sie keine ausreichende Gesundheitsversorgung erhalten. Und dennoch bleibt unsere Hilfe weit hinter unseren Möglichkeiten, Hilfe zu leisten, zurück.
In anderen Fällen ist die Not nah, wir weisen sie aber von uns, da wir uns von den Menschen in Not bedroht fühlen oder wir Angst haben vor ihnen. Die Not der Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, ist so eine Not. Wir kennen ihre Lage, wir wissen von den Hunderten Menschen, die dort Monat für Monat zu Tode kommen, auch weil wir ihre Not ignorieren und ihnen eine ausreichende Hilfe verweigern, und doch überwiegt unsere Angst vor ihnen, ist unsere Abneigung stärker als unser Mitgefühl.
Wir können nicht jedem in einer Notlage helfen, auch nicht jedem in höchster, womöglich lebensgefährdender Not. Aber wir können und wir müssen viel mehr tun als wir momentan zu leisten bereit sind. Die Not, in der wir bedingungslos verpflichtet sind, Hilfe zu leisten, ist in Fällen gegeben, in denen das Leben des anderen in akuter Gefahr ist. Genauso sind wir verpflichtet, Hilfe zu leisten, wenn andere menschliche Grundbedürfnisse gefährdet sind, wenn Menschenrechte nicht gewahrt sind. Wenn wir in diesem Zusammenhang einen Minimalkonsens des Verständnisses der Menschenrechte als Bedürfnisse, die ein Leben in minimaler Würde ermöglichen sollen, annehmen, zählen hierzu unter anderem ausreichende Nahrung, eine grundlegende Gesundheitsversorgung oder eine sichere Wohnung, und es zählen hierzu grundlegende Freiheitsrechte, wie die Redefreiheit und die Versammlungsfreiheit.
Wir wissen, dass weltweit fast eine Milliarde Menschen unterernährt sind und Hunger leiden (siehe auch Blog-Eintrag vom 18. Oktober 2017), wir wissen, dass allein in Afrika große Teile der Bevölkerung, besonders in ländlichen Regionen, keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer Notfallversorgung haben (siehe auch Blog-Eintrag vom 13. Februar 2018), Millionen Menschen wurden allein in Syrien aus ihrer Heimat vertrieben und leben unter teilweise erbärmlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern in Jordanien oder im Libanon, viele leben ohne Rechtssicherheit und Schutz unter ebenso prekären Bedingungen in der Türkei, und so machen sich unter diesen Menschen eine Not, eine Hoffnungslosigkeit und eine Perspektivlosigkeit breit, die unseren Vorstellungen eines Lebens in Würde nicht entsprechen.
Und doch bleibt unsere Hilfeleistung schon in diesen Bereichen weit hinter unseren Möglichkeiten zurück. Die internationale Gemeinschaft hat sich vor Jahren auf den Minimalkonsens geeinigt, dass die entwickelten Industrienationen mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungszusammenarbeit aufbringen sollen – nur sehr wenige Staaten kommen diesem Ziel nach. Schlimmer noch, zunehmend sind große Teile der Gesellschaft bereit, für eine Politik einzustehen, die offen fremdenfeindlich argumentiert und die Not anderer nicht respektiert.
Die allgegenwärtige Diskussion über unseren Umgang mit Flüchtlingen und Migranten zeigt, dass in unserer Gesellschaft die uneingeschränkte und unbedingte Anerkennung der Menschenrechte offen zur Disposition steht. Aus den „christlichen“ Parteien kommen befremdlich geschichtsvergessene und unsere humanitären Wurzeln missachtende Töne, und selbst die hanseatisch-weltoffen-liberale Zeit kritisierte zuletzt ein „absolut kompromissloses“ Verständnis von Menschenrechten.
Ja, Menschenrechte gilt es, absolut kompromisslos zu akzeptieren und zu achten. Der Respekt der Würde eines jeden unserer Mitmenschen ist elementare Grundlage unserer Humanität, und würden wir hier Einschränkungen akzeptieren, wäre dies ein großer Schritt in Richtung Barbarei. Genau dieser Respekt vor der Würde unserer Mitmenschen gebietet uns, die Menschen auf dem Mittelmeer nicht hilflos ihrem Schicksal zu überlassen, er gebietet uns, dass wir engagiert gegen den Hunger von Millionen Männern, Frauen und Kindern angehen, dass wir Sorge dafür tragen, dass in absehbarer Zeit möglichst viele Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu Schulbildung und zu der notwendigen medizinischen Versorgung erhalten und dass wir tatsächlich wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen. Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen können wir als umfassenden Leitfaden zurate ziehen, wenn wir konkret wissen wollen, was zu tun ist und was wir unseren Mitmenschen in Not schulden.
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