MEDIZIN: Übersichtsarbeit
Auditorisches Hirnstammimplantat – Restitution des Hörens bei kongenital ertaubten Kindern
Auditory brainstem implants—hearing restoration in congenitally deaf children
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Hintergrund: Taub geborene Kinder können mit einem Cochleaimplantat (CI) hören und sprechen erlernen. Ist aus anatomischen Gründen die Implantation eines CI unmöglich, stellt das auditorische Hirnstammimplantat („auditory brainstem implant“, ABI) die einzige operative Alternative zur Hörrehabilitation dar. Rechnerisch kämen jährlich circa 5–45 Kinder in Deutschland dafür infrage. In diesem Beitrag wird die aktuelle wissenschaftliche Datenlage präsentiert und diskutiert.
Methode: Die Datenbanken PubMed und Embase wurden nach Publikationen ab dem Erscheinungsjahr 2010 durchsucht. 15 Arbeiten mit je mindestens 10 Fällen und einem Jahr ABI-Hörerfahrung wurden in die Analyse eingeschlossen. Die Resultate, unter anderem „categories of auditory performance“(CAP)-Werte (0–7), werden vorgestellt und mit den Ergebnissen bei eigenen 38 Patienten verglichen.
Ergebnisse: Alle Arbeiten zeigten, dass Kinder ohne zusätzliche Behinderungen durch den Einsatz des ABI deutlich bessere Hörergebnisse hatten als Kinder mit weiteren Behinderungen. Eine Implantation in einem frühen Alter, möglichst unter drei Jahren, erwies sich als vorteilhaft. Die Hörergebnisse variierten deutlich zwischen den Publikationen und zwischen den Patienten. Der durchschnittliche CAP-Wert aus allen Arbeiten betrug 3,57 (Standardabweichung [SD] 1,04). 38,24 % der Patienten (SD 18,68) erreichten ein offenes Sprachverstehen (CAP ≥ 5), das heißt das Vermögen, im Alltag ohne Lippenlesen zu kommunizieren. In einigen Fällen gelang es sogar, sich über das Telefon zu verständigen.
Schlussfolgerung: Das ABI ist eine sichere und erfolgreiche Methode zur Behandlung sensorineuraler Gehörlosigkeit auch bei taub geborenen Kindern, die nicht mit einem CI versorgt werden können. Besonders Kinder ohne weitere Beeinträchtigungen haben gute Chancen, ein offenes Sprachverstehen zu erlangen, vor allem, wenn eine frühe Implantation erfolgt.


Konventionelle Hörgeräte setzen eine intakte Verbindung des peripheren Hörorgans mit dem Gehirn voraus. Auch das Cochleaimplantat (CI) braucht den intakten Hörnerven, damit schwer Hörgeschädigte wieder akustisch kommunizieren oder sogar taub geborene Kinder das Hören erlernen können (1, 2, 3). Eine Gruppe von Kindern mit angeborener sensorineuraler Ertaubung hat aber keine implantierbare Cochlea und/oder eine Hypo-/Aplasie der Hörnerven. Diese Patientinnen und Patienten machen circa 1–10 % der taub Geborenen aus. Sie können durch ein auditorisches Hirnstammimplantat („auditory brainstem implant“, ABI) das Hören erlernen.
Da es in Deutschland kein CI-Register und schon gar kein ABI-Register gibt, sind genaue Zahlenangaben zu CI- oder ABI-Operationen nicht möglich. In der Schweiz wurden 2015 45 Kinder zwischen 0–3 Jahren und 22 zwischen 3–12 Jahren mit einem CI versorgt (4). Geht man von der etwa 10-fach höheren Einwohnerzahl in Deutschland aus und betrachtet nur die 0- bis 3-Jährigen, kämen circa 450 Kinder mit angeborener Ertaubung für ein CI infrage. Von diesen könnten rechnerisch circa 5–45 mit einem ABI versorgt werden.
Im Gegensatz zum CI werden die Elektroden des ABI direkt auf den Nucleus cochlearis am Hirnstamm implantiert und so ein elektro-neurales Interface unmittelbar zum Gehirn hergestellt (Abbildung). Die über einen Hörprozessor übertragenen Impulse ermöglichen es den tauben Kindern, ohne einen Rest des peripheren Sinnesorgans ein kommunikationsförderndes, sogenanntes funktionales Hören zu erlernen. Eine höhere, integrative Sinnesleistung wird allein durch technisch erzeugte Signale, die direkt in das Gehirn einfließen, erlernt.
Die Anfänge des ABI, das ursprünglich für Patienten mit Neurofibromatose Typ 2 (NF-2) entwickelt wurde, reichen bis 1979 zurück. House und Hitselberger implantierten erfolgreich das erste, technisch sehr einfache ABI bei NF-2 (5, 6). Technologische Weiterentwicklungen führten zu elektronisch hochintegrierten, mehrkanaligen Systemen, die ab den 1990er Jahren zunächst bei NF-2 Patienten (7, 8, 9, 10, 11, 12) und ab den 2 000er-Jahren auch bei taub geborenen Kindern eingesetzt wurden (13).
Die CI-Versorgung ist ein weithin bekanntes Verfahren: Von 2005–2016 wurden circa 3 2454 CI in Deutschland implantiert (4, 14). Demgegenüber wird die Möglichkeit der ABI-Versorgung insbesondere bei Kindern, die prälingual, das heißt vor dem Spracherwerb, ertaubt sind, noch zu selten erwogen oder sie ist unbekannt. Mit dieser Arbeit wollen wir einen aktuellen Überblick über die wissenschaftliche Datenlage zu diesem Thema geben.
Methode
Da die Ergebnisse einer spezialisierten und seltenen Therapie wesentlich von der Behandlungserfahrung abhängen, ist eine Mindestfallzahl in einer Kohortenstudie wichtig, um eine gewisse Vergleichbarkeit und Ergebnisvalidität herzustellen; wir haben ein Minimum von zehn Fällen festgelegt. Ferner sollten die inkludierten Patienten über mindestens ein Jahr Hörerfahrung mit dem ABI verfügen, weil die Hörresultate deutlich zeitabhängig sind. Um einen Überblick über die Studienlage zu gewinnen, haben wir zwei Datenbanken, Pubmed und Embase, herangezogen. Die Suche fand für den Zeitraum vom 1.1.2010 bis zum 25.1.2021 statt. Die Suchkriterien finden sich in Kasten 1.
In PubMed ergaben sich 205 Treffer und 13 Duplikate. In Embase waren es 99 Literaturstellen, die alle in PubMed vertreten waren. Die weitere Eingrenzung nach relevanten Arbeiten ergab 48 Publikationen. Diese wurden nach den Kriterien „mindestens zehn Fälle“ und „mindestens ein Jahr ABI-Hörerfahrung“ der inkludierten Patienten ausgewählt. Es fanden sich 15 Originalarbeiten, die diese Kriterien erfüllten (15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29). Der Hauptfokus lag nicht bei allen Arbeiten auf den Hörresultaten. Manche konzentrierten sich auf Komplikationen, anatomische Varianten, die Lebensqualität und intraoperative Messungen. Hörresultate wurden teilweise als qualitative Aussagen wiedergegeben oder als Hörbereiche ohne genaue Mittelwertangaben. Auch war der Analysezeitraum nicht in allen Studien gleich. Soweit möglich, wurden alle quantitativen Zahlenwerte aus den Arbeiten extrahiert und zusammen mit qualitativen Daten (Tabelle) als Datenübersicht dargestellt, wobei die genannten Limitationen zu berücksichtigen sind.
Die eigene Patientenkohorte umfasst 43 ABI-Operationen bei 41 Kindern (zwei Revisionen) im Zeitraum von 2009 bis 2020. Ausgewertet wurden, nach den oben genannten Kriterien, 38 Kinder. Der Altersbereich lag im Mittel bei 3,3 Jahren (1,25–11 Jahre), der mittlere Follow-up (mFU) war 3,7 (SD 1,4) Jahre beziehungsweise 2,7 (SD 1,2) bei Kindern mit zusätzlicher Behinderung. Die Erziehungsberechtigten willigten in die operative Versorgung, die anschließenden Nachkontrollen, die Nachjustierung des Implantates sowie die Datenauswertung ein. Die Hörergebnisse wurden mit der „categories of auditory performance“(CAP)-Skalierung (Kasten 2) bestimmt (30). Es handelt sich dabei um eine anerkannte, verbreitete Methode, das Hörergebnis zu erfassen. Zur statistischen Aufarbeitung wurde, falls erforderlich, der t-Test verwendet.
Ergebnisse
Die Tabelle fasst die Ergebnisse der 15 Studien und die eigenen Resultate in den wesentlichen Aussagen zur postoperativen Hörleistung, zur Patientenzahl, zum Patientenaltersbereich, zur Pathologie, Methode und zum Follow-up sowie Drop-out zusammen. Randomisierte prospektive Studien sind nicht vorhanden und ethisch auch problematisch. Im Wesentlichen stützt sich die Datenlage auf retrospektive Kohortenanalysen. Drei prospektiv angelegte, monozentrische Studien (19, 23, 28) betrachteten Patienten mit unterschiedlicher Pathologie bis zu 12 Jahre lang. Die ausgewählten Studien berichten über insgesamt 366 ABI-versorgte Kinder mit kongenitaler Ertaubung.
Schwerwiegende Komplikationen im Rahmen der ABI-Operation bei Nicht-Tumorpatienten waren in 1/29 Fällen eine Meningitis, eine Kleinhirnkontusion und eine lokale Infektion (15). Sonst wurden keine Infektionen angegeben und auch in der eigenen Serie nicht beobachtet. Wesentliche Komplikationen, zum Beispiel Hirnnervenläsionen, ließen sich auf eine begleitende Tumorentfernung zurückführen (15). Bei Nicht-Tumorpatienten mit angeborener Ertaubung traten geringe Komplikationen auf, zum Beispiel Wundserome 4/29 (15), die auch bei CI vorkommen, bei 17 % der Kinder (15). Wegen der Durchleitung des Elektrodenkabels durch die Dura ist mit etwas vermehrten subkutanen Liquorkissen zu rechnen. In allen fünf Fällen aus der eigenen Serie konnte konservativ behandelt werden.
Die Gesamtlänge des Beobachtungszeitraums war relativ heterogen, der längste Zeitraum betrug 12 Jahre. Am wichtigsten sind das erste Jahr nach der Implantation und die beiden darauf folgenden Jahre. Nach einem Jahr ist die Hörentwicklung schon klar erkennbar, nach drei Jahren lässt sich das Hörergebnis bereits nahezu abschließend bewerten. Bedeutsam ist, ob die Kinder eine zusätzliche Behinderung oder ein syndromales Leiden hatten, das mit einer Ertaubung einhergeht, zum Beispiel ein CHARGE- oder Goldenhar-Syndrom. Diese Patienten hatten ein deutlich schlechteres Behandlungsergebnis (19, 20, 21). Auch der Implantationszeitpunkt beeinflusste das Ergebnis, da eine frühe ABI-Versorgung, vor dem 3. Lebensjahr, bessere Resultate erbrachte (16, 19, 21, 24, 31). Diese Ergebnisse wurden auch in der eigenen Patientenkohorte bestätigt (Grafik). Bei Patienten unter drei Jahren war der durchschnittliche CAP 5,5 (SD 0,75), bei Patienten über drei Jahre 4,73 (SD 0,64, p < 0,05).
Wie Kasten 2 darstellt, beginnt mit CAP 4 das Erkennen und Verstehen von Sprachlauten und damit die einfache, verbale Kommunikation. CAP 5 und besser entspricht einem offenen Sprachverständnis (korrektes Verstehen unbekannter Sätze ohne Lippenbild).
Zum Zeitpunkt der letzten Evaluation nach 1–3 Jahren lag der Mittelwert aller CAP-Ergebnisse bei nicht weiter behinderten Kindern bei 3,57 (SD 1,04; Median 3,33). Zwischen den einzelnen Studien finden sich deutliche Schwankungen zwischen 2,4 und 5 mittlerer CAP. Bei Kindern mit zusätzlicher Behinderung sind die Angaben spärlicher, auf die Berechnung eines Mittelwertes wurde deshalb verzichtet. Es zeigen sich Werte zwischen 2,0 und 3,14.
In der eigenen Gruppe fanden sich bei der letzten Evaluation im mittleren Follow-up (mFU) 3,7 Jahre, bei fehlender Behinderung CAP-Werte von durchschnittlich 5,05 (SD 0,80) beziehungsweise 3,14 (SD 0,66, p < 0,001) bei zusätzlicher Behinderung (mFU 2,7 Jahre). Der Prozentsatz an Kindern, die bei der letzten Evaluation mit einem CAP 5 oder besser abschnitten, lag durchschnittlich bei 38,24 % (SD 18,68; Median 34,28). Die Prozentangaben schwanken zwischen 18,2 % und 72 %. Die relativ großen Standardabweichungen resultieren aus den unterschiedlichen Beobachtungszeiträumen und den großen interindividuellen Unterschieden.
Diskussion
Vor der ABI-Ära war die chirurgische Hörimplantatversorgung auf das CI beschränkt. Zwischen 1–10 % taub geborener Kinder waren somit zur Gehörlosigkeit verurteilt, weil sie nicht erfolgreich mit einem CI versorgt werden konnten. Die ersten ABI-Operationen bei Kindern (13) waren Pionierleistungen und wurden kontrovers diskutiert. Da es keine Tumoroperationen waren, wurde das gesamte OP-Risiko eingegangen – in der Hoffnung, Höreindrücke herzustellen, über deren Bedeutung für das Verstehen man wenig vorhersagen konnte. Heute gibt es zwar mehr Erfahrungen und es ist möglich, Wahrscheinlichkeiten anzugeben, wie das Ergebnis nach ein paar Jahren sein könnte, aber eine sichere individuelle Vorhersage ist weiterhin nicht möglich. Deshalb ist es wichtig, die Einwilligungsberechtigten umfassend zu informieren und aufzuklären.
Die Beurteilung der Datenlage muss angesichts der in dem Abschnitt „Methoden“ genannten Limitationen kritisch erfolgen. Einschränkungen durch die meist retrospektiven Studien sind zu berücksichtigen: Die Erfassung der Hörergebnisse erfolgte nicht immer zu den gleichen Zeitpunkten, oft in Zeitintervallen. Oft wurde die postoperative Hörrehabilitation nicht im Einzelnen erläutert und intraoperative Probleme, Ausschlusskriterien oder Drop-outs wurden nicht immer thematisiert.
Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass mit dieser Methode ein positives Hörresultat bis hin zum offenen Sprachverständnis in 38 % der Fälle erzielt werden konnte. Zudem zeigte sich bei Nicht-Tumorpatienten eine geringe Komplikationsrate.
Die wesentlichen Komplikation waren Wundserome 4/29 (15) oder subkutane Liquortaschen. Zum einen lag dies an der Durchleitung des ABI-Elektrodenkabels durch die Dura, die trotz intensiver Abdichtung immer eine Schwachstelle ist. Zum anderen lag es an der fehlenden Compliance der Kinder. Weinen, Schreien, Pressen führten zu intermittierenden Hirndrucksteigerungen mit erleichtertem Liquoraustritt. Die Behandlung war durch Punktion und Druckverband möglich. Die meisten schweren Komplikationen (32,3 %), insbesondere Hirnnervenläsionen, traten im Rahmen begleitender Tumorresektionen auf (15). Reine ABI-Operationen hatten zahlenmäßig vergleichbare Komplikationsraten wie CI-Operationen: 17 %. Allerdings ist das Gefahrenpotenzial bei intrakraniellen Eingriffen allgemein höher. Im Konsensuspapier zum ABI (32) wird deshalb auch auf die allgemeine und spezielle operative Erfahrung des Implantationsteams verwiesen. Sie ist besonders bei eventuellen Revisionsoperationen wichtig. In seltenen Fällen kann es zur Dislokation der Stimulationselektrode oder zu einem technischen Defekt, zum Beispiel durch einen Sturz, kommen. Revisionsoperationen sind schwieriger zu indizieren und durchzuführen, zeigen aber in einzelnen Fällen gute Erfolge (33). Studienergebnisse mit belastbaren Zahlen größerer Kohorten liegen noch nicht vor.
Mit den Implantaten sind Magnetresonanztomografien (MRT) grundsätzlich möglich, allerdings mit eingeschränkten MR-Sequenzen. Lediglich an der Implantat-seitigen hinteren Schädelgrube treten Störungen des Magnetfeldes mit fehlender Beurteilbarkeit auf. Der restliche Bereich des Kopfes und die übrigen Körperregionen können mithilfe von MRT (1,5 T) sicher untersucht werden (34, 35). Vor allem für Kinder, bei denen andere Erkrankungen aufgetreten sind, ist diese Möglichkeit wichtig.
Auch eine bilaterale Versorgung der Kinder, ähnlich wie mit dem CI (36), ist in der Diskussion und wird von einigen Autoren befürwortet (37, 38, 39). Dadurch könnte die gesamte Kapazität der Hörbahn ausgenutzt werden – mit einem erhöhten Informationsinput für das Großhirn. In einzelnen NF-2 Fällen hat sich die beidseitige Implantation als hilfreich erwiesen (38, 39). Analog zu den verbesserten kognitiven Leistungen nach bilateralen CIs (e5), darf man eine weitere Verbesserung der ABI-Ergebnisse erwarten, sofern das bilaterale ABI von den Kostenträgern unterstützt wird.
Die Ergebnisse zeigen, dass praktisch bei allen Kindern ein Hörvermögen unterschiedlicher Qualität wiederhergestellt werden konnte. Statistisch erreichten die nicht syndromalen Kinder in etwas über einem Drittel ein offenes Sprachverständnis (38,24 %). Alle Studien, die diesen Aspekt evaluierten, konnten zeigen, dass Kinder mit weiteren Behinderungen ein deutlich schlechteres Ergebnis hatten. Ihre CAPs lagen zwischen 2–3 (14), ein offenes Sprachverständnis wurde nicht erreicht. Dennoch profitierten auch sie von den Höreindrücken im Sinne von Wahrnehmung von Umweltgeräuschen, besserer Orientierung und Unterstützung nonverbaler Kommunikation. Ähnlich wie bei CI (e5) wird durch das ABI-Hören auch die kognitive, mentale und soziale Entwicklung positiv beeinflusst. Bei Kindern, die mit einem ABI versorgt waren, konnte ein positiver Effekt auf die Lebensqualität festgestellt werden (25).
Die durchschnittlichen CAP-Werte und der Prozentsatz an offenem Sprachverständnis schwankten in den Studien und interindividuell stark. Für ein möglichst gutes Ergebnis erscheint eine präzise Implantation unter intensiver Nutzung elektrophysiologischer Methoden („electrical brainstem response audiometry“, E-BERA) erforderlich. Eine exakte Platzierung führt zu mehr Tonhöhenerkennung, geringerer elektrischer Stimulationsstärke und höherer Stimulationsfrequenz pro Einzelelektrode. Diese Parameter korrelierten positiv mit einem besseren, offenen Sprachverständnis (40).
Das Hörvermögen verbesserte sich auch zeitlich, wie nahezu in allen Studien (15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29) beschrieben wurde. Eigene Erfahrungen zeigen eine Verbesserung des CAP von 0 auf durchschnittlich CAP 5 nach 24–36 Monaten ABI-Hörerfahrung, was ein offenes Sprachverständnis bedeutet. Die syndromalen Kinder erreichten nur CAP 3 (p < 0,001).
Es ist bedeutsam, dass sich nach allgemeiner und eigener Erfahrung mit zunehmendem Implantationsalter nach dem dritten Lebensjahr das Hörergebnis signifikant (p < 0,05) verschlechtert, wenngleich es immer noch hilfreich für die Patienten ist (Grafik). In Einzelfällen kann ein offenes Sprachverständnis auch noch bei späterer Implantation erzielt werden. Ein analoger Zusammenhang ist auch bei CI zu erkennen (31) und hängt mit der Entwicklung, Plastizität und Reifung der Hörbahn zusammen.
Aus diesen Ergebnissen wird ein weiterer, wichtiger Aspekt erkennbar. In Fällen, bei denen wegen Limitationen in der Diagnostik unsicher ist, ob ein Hörnerv hypo- oder aplastisch ist oder ob die oft dysmorphe Anatomie des Innenohres noch ein CI zulässt, wird bisher eher ein CI präferiert. Diese Entscheidung sollte von einer erfahrenen CI-Otochirurgin oder einem erfahrenen CI-Otochirurgen möglichst frühzeitig getroffen werden. Zeigt die CI-Hörentwicklung aber keinen erkennbaren Fortschritt oder nur minimale Erfolge, dann sollte möglichst bald ein ABI erwogen werden, um die Entwicklung der Hörbahn und der neuronalen Vernetzung frühzeitig zu fördern.
Über dieses Vorgehen sollten die Eltern im Rahmen des Entscheidungsprozesses, welche Operation am sinnvollsten ist, von Anfang an aufgeklärt werden. Untersuchungen aus den Jahren 2013 und 2014 (17, 18) zeigen, dass bei gescheitertem CI eine frühzeitige ABI-Versorgung zu einer signifikanten Hörverbesserung führen kann – vorausgesetzt, es wird nicht zu lange gewartet. Es ist verständlich, dass Eltern einen zweiten Eingriff, und noch dazu am Gehirn, möglichst vermeiden wollen. Die Studienergebnisse (15, 19, 21) belegen aber die hohe Sicherheit und die guten Ergebnisse des ABI-Verfahrens. Außerdem ist zu bedenken, dass ohne ein ABI auch die vorausgegangene CI-Operation weder diagnostisch noch als Therapieversuch hilfreich war.
Eine neuere Möglichkeit zur Entscheidungsfindung, welches Implantat – CI oder ABI – in schwierigen diagnostischen Situationen sinnvoll ist, stellt die intraoperative Stimulation der Cochlea mit der Ableitung elektrisch evozierter BERA-Potentiale (e6, e7) dar. Dafür ist eine Cochleostomie notwendig, bei der eine atraumatische Testsonde eingeführt wird. Ergibt die Stimulation positive Antworten, wird mit der CI-Operation fortgefahren, ansonsten wäre das ABI indiziert und die Operation könnte damit erweitert werden.
Sicher ist, dass in diagnostisch schwierigen Fällen die Entscheidung zwischen primärem CI oder ABI immer in einem erfahrenen Team erfolgen muss, auch unmittelbar intraoperativ. Eine schlechte Entwicklung mit einem CI rechtzeitig zu erkennen, ist dabei entscheidend (17, 18). Die alternative ABI-Versorgung sollte möglichst im 2. Lebensjahr, spätestens aber im 3. Lebensjahr angestrebt werden.
Abschließend ist festzustellen, dass das ABI für Kinder zwar noch nicht so flächendeckend bekannt und etabliert ist wie für erwachsene Tumorpatienten, es bietet aber in speziellen Fällen – ohne CI-Option – eine verlässliche Therapiemöglichkeit zur Restitution des Hörens.
Interessenkonflikt
Prof. Behr erhielt Unterstützung bei der Datenbankrecherche, Honorare für Beratungen und Forbildungen sowie Reisekosten- und Kongressgebührenerstattung von der MedEl, Innsbruck, Österreich.
Die übrigen Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 29. 4. 2021, revidierte Fassung angenommen: 13. 12. 2021
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. habil. Robert Behr
Klinik für Neurochirurgie, Klinikum Fulda gAG
Pacelliallee 4, 36043 Fulda
robehr@iesy.net
Zitierweise
Behr R, Schwager K, Hofmann E: Auditory brainstem implants—hearing restoration in congenitally deaf children. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 135–41. DOI: 110.3238/arztebl.m2022.0090
►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter:
www.aerzteblatt-international.de
Zusatzmaterial
eLiteratur, eMethodenteil:
www.aerzteblatt.de/m2022.0090 oder über QR-Code
Universitätsmedizin Marburg Campus Fulda, Klinik für Hals-Nasen-Ohrenkrankheiten, Kopf-Hals- und plastische Gesichtschirurgie, Kommunikationsstörungen (Hör-, Stimm- und Sprachstörungen): Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Konrad Schwager
Universitätsmedizin Marburg Campus Fulda, Klinik für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie Emeritus: Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Erich Hofmann
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