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Avatar #106067
am Donnerstag, 2. Februar 2017 um 14:08

"Health Literacy"?

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Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland
aus Dtsch Arztebl 2017; 114(4) vom Freitag, 27. Januar 2017
Wer soll das denn alles Lesen und Verstehen?
Nach der Studie 'Health Literacy in Deutschland' der Bielefelder Professorin Doris Schaeffer fällt es mehr als der Hälfte der nicht-medizinisch vorgebildeten Menschen in Deutschland (54,3 Prozent) schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden.
Bereits die Ergebnisse einer Voruntersuchung in Nordrhein-Westfalen hatten belegt, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad und Ältere unterstützt werden müssten.
Sie hätten beispielsweise Schwierigkeiten, Beipackzettel zu verstehen oder Informationen einzuschätzen. 44,5 Prozent der fast 2.000 Befragten äußerten Unsicherheit, die Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen. Das geht Haus- und Fachärzten aber oft ähnlich!

Zweitmeinungen
Entsprechend sieht es bei den ärztlichen Zweitmeinungen aus: 49,3 Prozent der Deutschen empfinden es laut der Studie als „schwierig“, zu beurteilen, wann diese sinnvoll ist. „Ein großer Teil der Bevölkerung kann das Gesundheitssystem nicht effektiv nutzen und sich kompetent darin bewegen“, ist das Fazit von Studienleiterin Professor Doris Schaeffer.

„Literacy“ historisch
Doch was ist eigentlich „Health Literacy“? Korrekt ins Deutsche übersetzt wäre das eine möglichst umfassende Kunde von Gesundheit. „Literacy“ im engeren Sinne ist die Fähigkeit, mit basalen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen umgehen zu können („Literacy is traditionally understood as the ability to read, write, and use arithmetic“).

Das moderne „Literacy“
Der Begriff „Literacy“ ist durch die moderne Sozialforschung umfassend erweitert und modernisiert worden: „The modern term's meaning has been expanded to include the ability to use language, numbers, images, computers, and other basic means to understand, communicate, gain useful knowledge and use the dominant symbol systems of a culture. The concept of literacy is expanding in OECD countries to include skills to access knowledge through technology and ability to assess complex contexts“, so Wikipedia. "Literacy" versteht sich als umfassende/s komplexe Erkenntnis, Verständnis, Reflexion, Selbstreflexion und erweiterte Technologie-Nutzung.

Wissenschaftstheoretischer Wasserkopf
Damit ist die „Gesundheitskunde“ als umfassendes Schul- und lebenslanges Lern-Fach zu Sprach-, Zahlen-, Bilder-, Computer-, Verständnis-, Kommunikations- und Semiotik-Wissenschaften hochstilisiert worden, um technologischen Wissenserwerb und Verständnis komplexer Zusammenhänge zu erreichen.
Mit diesem wissenschaftstheoretisch völlig überladenen „Wasserkopf“ wollen sich Medizin-, Krankheits- und Versorgungs-bildungsferne sozialwissenschaftliche Experten/-innen als Gesundheitsforscher und Gesundheitswissenschaftler profilieren und über ihren neuen Wissenszweig Alleinstellungsmerkmale und weiteres Herrschaftswissen aufbauen.
Die niedergelassenen Vertragsärzte, insbesondere die primär bei Krankheits-, Gesundheits- und Präventionsfragen in Anspruch genommenen Familien- und Hausärzte wurden in einer sich permanent verändernden Wissenschafts-Gesellschaft in einem dauerhaften Diskurs über unterschiedliche Bewältigungs-Strategien bei Schwangerschaft, Geburt, Leben, Krankheit, Gesundheit, Vorsorge, Früherkennung, Chronizität, Behinderung, Palliation und Sterben gar nicht erst berücksichtigt.

Humanmedizin wird falsch eingeschätztzt
Was hat das alles mit der medizinischen Profession, mit Ärztinnen und Ärzten oder mit unseren Patienten/-innen in Klinik, Forschung und Praxis zu tun? Unser humanmedizinisches „Kerngeschäft“ mit Krankheiten bzw. Krank-Sein unserer Patienten über Anamnese, Untersuchung, Differenzial-Diagnosen, Beratungen, multidimensionalen Therapien, Palliation, privat- und vertragsärztlicher Praxis, Krankenhäuser und Universitäten wurde und wird von allen Vertretern der alleinigen Aspekte „Gesundheit“ und „Gesundbeten“ Medizin-bildungsfern falsch eingeschätzt. ??
Das DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) beschreibt einige zehntausend Krankheitsentitäten nach der Internationalen ICD-10-GM-Nomenklatur: Nach ICD-Diagnosen-Thesaurus, Version 4.0, wurden ca. 31.200 beschrieben. Die aktuelle Version der ICD-10 GM 2014 listet in seiner Systematik ca. 13.400 endständige Kodes auf und verfügt in seinem ICD-10 Alphabet über ca. 76.900 Einträge in der EDV-Fassung.

Unsere Kernkompetenz
Unsere Kernkompetenz sind die Zehntausenden von Krankheitsentitäten, die ambulanten/stationären Pharmako- und Physiotherapien, Heilbehandlung, Operationen, Injektionen/Infusionen, Kuren, Minimalinterventionen oder Hybrid-OPs: Bei Herz- und Hirn-Infarkten, ACS, Herzfehlern, Aneurysma, Miss- und Fehlbildungen, Lungenembolien, akutem Abdomen, eingeklemmten Hernien, KHK, systolischen/diastolischen/pulmonalen Hypertonien, Hyperlipidämien, PAVK, Mesenterialinfarkten, Tumorkrankheiten, Kachexie und Marasmus, zerebralen Krampfanfällen, Gallenstein- und Nierensteinkoliken, entgleisten Typ-1 und 2-Diabetes Krankheiten und Komplikationen, Addison-Krisen, Thyreotoxikosen, Nierenversagen, dekompensierter Herzinsuffizienz, Infektionen mit Viren/Bakterien/Pilzen/Parasiten/Prionen oder chronischen Schmerzen, um nur Einiges zu nennen.

Medizinische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie im Fluss
Da hilft auch eine wie auch immer geartete "Health Literacy" unseren Patienten/-innen nicht weiter. Zumal sich medizische Erkenntnisse in Anamnese, Untersuchung, Differenzialdiagnostik, Labor, Apparate-Medizin, Psychosomatik, mehrdimensionaler Therapie, Schmerzlinderung, Palliation und Sterbebegleitung permanent weiterentwickeln, in Frage stellen oder revidieren lassen müssen. Trotzdem wird gegenüber Medien, Politik und Öffentlichkeit insbesondere von Medizinbildungs- und Versorgungsfernen Schichten in Wissenschaft und Praxis immer so getan, als ob Patienten selbst wesentlich klüger und allwissender sein müssten bzw. könnten, als ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Ein einheitlich zuverlässig beurteilbares Laien- und Expertenwissen kann es, wie in allen anderen Wissenschaftsdisziplinen auch, schon gar nicht in der Humanmedizin mit ihrer ständig changierenden "conditio humana" geben.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Vgl. dazu
http://news.doccheck.com/de/blog/post/3875-health-literacy-ist-das-kunst-oder-kann-das-weg/
Avatar #572508
am Freitag, 24. Februar 2017 um 22:29

Gesundheitskompetenz? wirklich?

Ich würde es eher als Gesundheits-Informations-Verwertungs-Kompetenz bezeichnen, zumindest lese ich das als Schwerpunkt aus dem Artikel.
Für mich heisst Gesundheitskompetenz: wie gehe ich mit mir und meiner Gesundheit bewusst um? Welche Kompetenzen habe ich gelernt? Wo befinde ich mich auf dem Salutogenese Kontinuum von Aaron Antonovsky?
Hier sehe ich aus dem Bereich der Medizin kaum Impulse. Schon gar nicht Richtung GesundheitsBILDUNG. Alle sind mit der Be-Handlung von Krankheit beschäftigt... und verdienen damit gut. So wird in der Gesellschaft Gesundheit nicht zunehmen. Es wäre unsere originäre Aufgabe als Mediziner Verantwortung für Gesundheitsbildung zu zeigen.
Avatar #106067
am Dienstag, 20. Februar 2018 um 21:43

Health Literacy: "Gesunde Krankheit" oder "kranke Gesundheit"?

Gesundheitskompetenz und Health Literacy: "Gesunde Krankheit" oder "kranke Gesundheit"?
In der angeblich repräsentativen und validierten Befragung zur Gesundheitskompetenz ging es schwerpunktmäßig gar nicht um "Gesundheit" sondern um Krankheitserscheinungen und deren medizinische Bewältigung.

"Fragen des HLS-EU Q47 und Zuordnung zu Bereichen
Wie einfach/schwierig ist es….
1. Informationen über Krankheitssymptome, die Sie betreffen, zu finden?
2. Informationen über Therapien für Krankheiten, die Sie betreffen, zu finden?
3. herauszufinden, was im Fall eines medizinischen Notfalls zu tun ist?
4. herauszufinden, wo Sie professionelle Hilfe erhalten, wenn Sie krank sind?
5. zu verstehen, was Ihr Arzt Ihnen sagt?
6. die Packungsbeilagen/Beipackzettel Ihrer Medikamente zu verstehen?
7. zu verstehen, was in einem medizinischen Notfall zu tun ist?
8. die Anweisungen Ihres Arztes oder Apothekers zur Einnahme der verschriebenen Medikamente zu verstehen?
9. zu beurteilen, inwieweit Informationen Ihres Arztes auf Sie zutreffen?
10. Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen?
11. zu beurteilen, wann Sie eine zweite Meinung von einem anderen Arzt einholen sollten?
12. zu beurteilen, ob Informationen über eine Krankheit in den Medien vertrauenswürdig sind?
13. mit Hilfe der Informationen, die Ihnen der Arzt gibt, Entscheidungen bezüglich Ihrer Krankheit zu treffen?
14. den Anweisungen für die Einnahme von Medikamenten zu folgen?
15. im Notfall einen Krankenwagen zu rufen?
16. den Anweisungen Ihres Arztes oder Apothekers zu folgen?
17. Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten bei ungesundem Verhalten, wie Rauchen, wenig Bewegung oder zu hohem Alkoholkonsum, zu finden?
18. Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten bei psychischen Problemen, wie Stress oder Depression, zu finden?
19. Informationen über empfohlene Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen zu finden?
20. Informationen darüber zu finden, wie man bestimmte Gesundheitsrisiken vermeiden oder damit umgehen kann, wie Übergewicht, hoher Blutdruck oder hoher Cholesterinspiegel?
21. Gesundheitswarnungen vor Verhaltensweisen wie Rauchen, wenig Bewegung oder übermäßiges Trinken zu verstehen?
22. zu verstehen, warum Sie Impfungen brauchen?
23. zu verstehen, warum Sie Vorsorgeuntersuchungen brauchen?
24. zu beurteilen, wie vertrauenswürdig Gesundheitswarnungen sind, z. B. Warnungen vor Rauchen, wenig Bewegung oder übermäßigem Trinken?
25. zu beurteilen, wann Sie einen Arzt aufsuchen sollten, um sich untersuchen zu lassen?
26. zu beurteilen, welche Impfungen Sie eventuell brauchen?
27. zu beurteilen, welche Vorsorgeuntersuchungen Sie durchführen lassen sollten?
28. zu beurteilen, ob die Informationen über Gesundheitsrisiken in den Medien vertrauenswürdig sind?
29. zu entscheiden, ob Sie sich gegen Grippe impfen lassen sollten?
30. aufgrund von Ratschlägen von Familie und Freunden zu entscheiden, wie Sie sich vor Krankheiten schützen können?
31. aufgrund von Informationen aus den Medien zu entscheiden, wie Sie sich vor Krankheiten schützen können?" usw. usf.

Bezeichnend ist der semantisch falsche Gebrauch des Risikos, gesund zu werden bzw. zu bleiben: Die unter 20. und 28. subsummierten "Gesundheitsrisiken" meinen das exakte Gegenteil, nämlich Krankheitsrisiken als Risiko, krank zu werden. Unter 21. und 24. anfgeführte "Gesundheitswarnungen" vernebeln vollends die Sinne: Damit können als semantisch-krankheitsverleugnende Nebelkerzen doch nur die Warnungen vor Krankheiten und deren Folgen gemeint sein.

Mf + kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
Quelle:
"GESUNDHEITSKOMPETENZ der Bevölkerung in Deutschland" - Ergebnisbericht von
Doris Schaeffer, Dominique Vogt, Eva-Maria Berens, Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Bielefeld, Dezember 2016

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