Politik
Weiter dramatische Lage an Sozialgerichten wegen Streit um Klinikabrechnungen
Donnerstag, 31. Januar 2019
Berlin – Die Sozialgerichte in Deutschland haben nach wie vor erhebliche Probleme mit eingereichten Klagen der Krankenkassen wegen möglicherweise fehlerhafter Krankenhausabrechnungen. „Die Situation ist dramatisch“, sagte gestern der Vizepräsident des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, Martin Löns, in Essen. Durch den hohen Aufwand für diese Fälle werde sich voraussichtlich auch bei anderen Verfahren, etwa Hartz-IV-Klagen, die Verfahrensdauer verlängern. Zuletzt dauerte ein Verfahren vor einem NRW-Sozialgericht im Durchschnitt knapp 13 Monate.
Bei den acht Sozialgerichten in Nordrhein-Westfalen (NRW) hatten zahlreiche Kassen im vergangenen November innerhalb weniger Tage rund 10.000 Klagen wegen möglicherweise zu viel bezahlter Behandlungskosten eingereicht. „Die Klagen sind für uns ein Wundertüte“, sagte Löns. Häufig seien sie beim falschen Gericht eingereicht worden, sodass die Akten an andere Gerichte geschickt werden müssten. Vielfach seien einzelne Behandlungsfälle in einer Klage zusammengefasst worden, die aber alle einzeln mithilfe von Gutachten geklärt werden müssten.
In der Summe könnten es deshalb in NRW rund 50.000 Verfahren sein. Dabei gehe es um viel Geld. In einem Verfahren fordere eine Kasse für 400 Behandlungsfälle 6,7 Millionen Euro zurück. Löns hofft, dass andere Zweige der NRW-Justiz die Sozialgerichte kurzfristig mit Personal unterstützen.
Klagen aus dem Bereich Krankenversicherung machen den Sozialgerichten nach Löns Angaben ohnehin zunehmend Arbeit. Klagen gegen Krankenhausabrechnungen seien zu einem wachsen Geschäftsfeld für Fachanwälte geworden. „Das wächst und wächst“, sagte Löns. Deshalb müssten Möglichkeiten gefunden werde, Streit um Krankenhausrechnungen außergerichtlich zu lösen. Schiedsverfahren oder Meditationen seien möglicherweise dafür geeignet.
Insgesamt sind an den NRW-Sozialgerichten im vergangenen Jahr knapp 97.000 Klagen eingegangen, rund 11.400 mehr als 2017. Den größten Anteil an den Verfahren haben mit gut 30 Prozent Klagen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Zahl der am Jahresende unerledigten Verfahren stieg um 13 Prozent auf rund 101.500.
aerzteblatt.de
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Auch in Sachsen hat sich die Lage nicht entspannt, wie das Sächsisches Landessozialgericht bekanntgab. So seien allein am Sozialgericht Dresden im vergangenen November und Dezember 805 neue Klagen eingereicht worden. Dabei gehe es um mindestens 1.380 verschiedene Einzelfälle. „Der Gesetzgeber hat uns Ende des Jahres noch eine Klagewelle beschert“, sagte Gerichtspräsidentin Dorrit Klotzbücher.
Die hohe Zahl der Fälle in Dresden liege daran, dass dort zwei Krankenkassen ihren Sitz hätten, hieß es. An den Sozialgerichten in Chemnitz und Leipzig wurden im genannten Zeitraum nur 115 beziehungsweise 129 Klagen eingereicht.
Gesetzgeber hat Klagen ausgelöst
Hintergrund für die Klagewelle vor den Sozialgerichten ist das am 9. November 2018 verabschiedete Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Darin wurde zum einen die Verjährungsfrist bei Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Kliniken und Krankenkassen von vier auf zwei Jahre verkürzt. Zum anderen wurde festgelegt, dass Ansprüche aus den Jahren vor 2018 bis zum 9. November 2018 geltend gemacht werden mussten.
Der Gesetzgeber wollte mit diesen Änderungen auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) über die Vergütung (Az.: B 1 KR 38/17 R) für die Schlaganfallbehandlung reagieren. Das BSG hatte die reine Transportzeit neu definiert, weshalb viele Krankenkassen die Chance sahen, Geld von den Krankenhäusern zurückzuerhalten. Die Fristverkürzung für diese Fälle sorgte für die immense Klagewelle.
Aufgrund der Probleme bei den Sozialgerichten durch die Klagewelle hatten Bundesministerium für Gesundheit (BMG), GKV-Spitzenverband und Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) die Kassen im Dezember dazu aufgerufen, die Klagen zur neurologischen Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls und zur geriatrischen frührehabilitativen Komplexbehandlung zu überprüfen.
Klarstellung im OPS-Katalog
Die Konfliktparteien sollten aus Sicht von BMG, GKV-Spitzenverband und DKG die Klagen und Aufrechnungen fallen lassen, sofern die neu definierten Kriterien zur Behandlung von Schlaganfall- und Geriatrie-Patienten erfüllt seien. Dazu hatte das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) zwei Klarstellungen zum Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 2019 veröffentlicht.
Im neuen OPS-Katalog ist beispielsweise formuliert, dass die auf maximal 30 Minuten begrenzte Zeitspanne zwischen Rettungstransportbeginn und Rettungstransportende die Zeit ist, die der Patient im Transportmittel verbringt. Wird diese Zeit eingehalten, kann ein Krankenhaus Zuschläge erhalten. Die Klarstellung ist rückwirkend ab dem 1. Januar 2014 gültig. Das DIMDI präzisiert damit auf Anordnung des BMG die bisherige Formulierung im OPS-Katalog, die zu den Problemen geführt hatte.
Eine Lösung ist bisher in Rheinland-Pfalz in Sicht. Der Großteil der von Krankenkassen eingereichten Klagen gegen Krankenhäuser wegen Kosten für die Behandlung von Patienten in Rheinland-Pfalz könnte dort bald zurückgenommen werden. Darauf verständigten sich zumindest beide Seiten in einer gemeinsamen Erklärung, die Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) und der wegen des Streits eingesetzte Vermittler Ernst Merz, früherer Präsident des Landessozialgerichts, heute in Mainz vorstellten. © may/dpa/aerzteblatt.de

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