Vermischtes
Warum Berührungen lebenswichtig sind
Mittwoch, 20. Februar 2019
Berlin – Frühgeborene, bei denen bis zu 20-mal die Stunde der Atem aussetzt, werden mit dem „heilenden Touch“ behandelt: Eine Krankenschwester eilt bei Atemstillstand zum Säugling und berührt ihn an der Fußsohle – darauf fängt das Baby wieder an zu atmen.
„Berührung ist eine elementare Voraussetzung dafür, dass der Mensch überhaupt wächst“, betont Martin Grunwald, Professor für Wahrnehmungspsychologie an der Universität Halle. Körperliche Entspannung, Regulation von Emotionen, Stärkung der Immunabwehr – all das sind Folgen der gegenseitigen Berührung.
„Wir brauchen adäquaten Körperkontakt für ein gesundes Leben und für einen guten Zusammenhalt in der sozialen Gemeinschaft“, so Grunwald. „Ein Organismus, der nicht fühlen kann, ist zum Sterben verurteilt.“ Unter dem Motto „Berührungswelten: wie fühlt unsere Gesellschaft?“ diskutierten am Dienstagabend in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Forscher verschiedener Disziplinen über die Bedeutung des sensorischen Sinns.
Der Mensch besitzt 750 bis 900 Millionen „tastsensible Rezeptoren“ in seinem Körper, etwa in Haut, Muskeln, Sehnen und Haaren. Das heißt, er ist von Kopf bis Fuß aus einem Netz von Sensoren durchzogen und steht – allein durch die Bodenberührung – immer im Kontakt mit der äußeren Welt.
Tastsinnleistungen von Studierenden haben abgenommen
Grunwald, der in den 1990er-Jahren in Leipzig das Haptik-Forschungslabor am Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig gegründet hat, beobachtet, dass die Tastsinnleistungen von Studenten im Vergleich zu vor zehn Jahren schlechter geworden sind. „Das elementare Sinnesystem ist nicht mehr so gut geschult“, kritisiert er. Der moderne Mensch sei in einer körperlich reizärmeren Umwelt aufgewachsen – der direkte Kontakt zu Menschen und Dingen werde weniger.
Medizinstudierende oder Veterinärmedizinstudierende seien dadurch nicht mehr „hinreichend sensibel“ für die angestrebte Tätigkeit und müssten erst einmal geschult werden. Um ihre Haptik zu verbessern, „schicken wir sie zum Beispiel in Nähkurse“, erzählt der Forscher. Die zunehmende Digitalisierung – der glatte Touchscreen eines Smartphones etwa – leiste dieser Entwicklung Vorschub. „Wir brauchen für eine gesunde Entwicklung den dreidimensionalen Kontakt zur Umwelt“, unterstreicht Grunwald. Vor allem Kinder müssten zunächst „mit allen Sinnen erwachsen“ werden.
„Wenn ich um die Ecke komme, spüre ich Sonne oder Wind im Gesicht und weiß dadurch, dass das Gebäude aufgehört hat, obwohl ich es nicht sehen kann“, sagt Reiner Delgado. Er ist Referent beim Deutschen Blindenverband und selbst seit 20 Jahren blind. Das Beherrschen der Blindenschrift Braille – also das Lesen durch Ertasten – werde zunehmend weniger, erzählt er: Blinde Menschen können sich die meisten Texte per Computer anhören. Eine positive Errungenschaft, wie er betont. Dennoch findet er, dass etwas verloren gehe. Der Tastsinn setzt voraus, dass „wir selbst aktiv werden. Wir sollten keine Scheu davor haben, Dinge anzufassen.“ Das Ertasten etwa von dreidimensionalen Bildern habe eine „besondere Intensität.“
Eigene Körperberührung fördert eine gesunde Entwicklung
Die Berliner Professorin für Tanzwissenschaft, Gabriele Brandstetter, sieht in der aktuellen hohen Nachfrage nach Tanzunterricht oder Tanzveranstaltungen eine „Reaktion auf eine beziehungslose Gesellschaft“. Wer tanze, müsse wieder lernen auf seine Körper zu hören. Tanzprojekte in Schulen könnten „eine andere, ausgleichende Komponente“ in die zunehmende Digitalisierung der Bildung bringen, so Brandstetter.
Auch die eigene Körperberührung sei wichtig für eine gesunde Entwicklung, betont Grunwald. Jeder Mensch fasst sich demnach etwa 400- bis 800-mal ins Gesicht – und frischt durch diese Eigenberührung sein Kurzzeitgedächtnis auf oder beruhigt hochfahrende Emotionen, wie Forschungen zeigten. Dieses Verhalten sei schon bei Föten im Mutterleib zu beobachten, erklärt der Psychologe – und trete umso häufiger auf, wenn die Mutter etwa rauche oder stark unter Stress stehe. „Offenbar hilft uns die Selbstberührung, uns in kritischen Lebenssituationen in Balance zu halten.“ © kna/aerzteblatt.de

Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.