Medizin
Schwangerschaft: Studie sieht IQ von Jungen durch fluoridiertes Trinkwasser gefährdet
Mittwoch, 21. August 2019
Toronto – Kann fluoridiertes Trinkwasser während der Schwangerschaft die fetale Hirnentwicklung behindern? In einer prospektiven Kohortenstudie aus Kanada hatten Jungen im Alter von drei Jahren einen niedrigeren Intelligenzquotienten (IQ), wenn bei den Schwangeren im Urin erhöhte Fluorkonzentrationen nachgewiesen wurden. Bei einem Vergleich der Fluoraufnahme wurde für beide Geschlechter ein Einfluss auf den IQ erkennbar, der laut der Studie in JAMA Pediatrics (2019; doi: 10.1001/jamapediatrics.2019.1729) jedoch das Signifikanzniveau verfehlte.
In vielen Ländern (nicht aber in Deutschland) wird dem Trinkwasser Fluor zugesetzt, um die Kinder vor Karies zu schützen. Die Public-Health-Maßnahme wurde zuerst in den USA eingeführt. Dort hatte 1945 eine Studie gezeigt, dass nach der Fluoridierung des Trinkwassers in Grand Rapids/Michigan, die Zahl der Zahnlücken bei den Kindern um 60 Prozent zurückging.
Heute enthält das Trinkwasser von zwei Dritteln der US-Bevölkerung und einem Drittel der kanadischen Bevölkerung zugesetztes Fluor, in Großbritannien wird das Trinkwasser ebenfalls fluoridiert. In Deutschland konnte sich die Idee nicht durchsetzen. Zuletzt scheiterte 1984 eine Initiative zur Trinkwasserfluoridierung in Berlin am Widerstand der Bevölkerung, aber auch Zahnärzte und Ärzte hatten sich dagegen ausgesprochen.
Zu den diskutierten Risiken gehört eine potenzielle Schädigung der Hirnentwicklung. Fluor passiert die Plazenta ungehindert. In Experimenten an Ratten kam es zu einer Anreicherung im Gehirn und zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisleistungen.
In epidemiologischen Studien war eine hohe Exposition im Trinkwasser wiederholt mit einem niedrigen IQ von Kindern assoziiert (Meta-Analyse im Environ Health Perspect 2012; 120: 1362-1368). Zuletzt hatte eine Studie aus Mexiko einen Anstieg der mütterlichen Fluorkonzentration im Urin (MUF) um 1 mg/l mit einer Verminderung des IQ um 6 Punkte im Schulalter der Kinder in Verbindung gebracht (Environmental Health Perspectives 2017; 1: 1-12).
Ein Team um Christine Till von der York University in Toronto hat jetzt die Daten des MIREC-Programms („Maternal-Infant Research on Environmental Chemicals“) ausgewertet, das in Kanada den Einfluss von Umweltchemikalien auf die fetale Entwicklung untersucht hat. Bei 512 Frauen war an drei Zeitpunkten im Verlauf der Schwangerschaft die MUF bestimmt worden. Bei den Kindern wurde später im Alter von 3 bis 4 Jahren ein Intelligenztest („Wechsler Primary and Preschool Scale of Intelligence-III“) durchgeführt.
Erwartungsgemäß hatten die Schwangeren, die in Gegenden wohnten, wo dem Trinkwasser Fluor zugesetzt wird, höhere MUF als die Schwangeren aus Regionen ohne Fluoridierung (0,69 versus 0,40 mg/l). Bei der Fluoraufnahme der Schwangeren, die aufgrund eines Fragebogens abgeschätzt wurde, waren die Unterschiede größer (0,93 versus 0,30 mg Fluor pro Tag).
Der Vergleich mit den Ergebnissen im Intelligenztest ergab, dass die MUF-Konzentrationen mit einem niedrigeren IQ verbunden waren. Die Assoziation bestand jedoch nur für Jungen. Bei ihnen war ein Anstieg des Fluors im Urin der Mutter um 1 mg/l mit einem um 4,49 Punkte niedrigeren IQ im Alter von 3 bis 4 Jahren verbunden.
Der Unterschied war signifikant, wenn auch mit einem ungewöhnlich weiten 95-Prozent-Konfidenzintervall von 0,60 bis 8,38 Punkten. Bei den Mädchen war kein signifikanter Einfluss nachweisbar.
Die Zufuhr von Fluor, die stark von der Menge des von der Schwangeren getrunkenen Leitungswassers abhängt, war in beiden Geschlechtern mit einem niedrigeren IQ der Kinder assoziiert. Pro 1mg Fluor am Tag war der IQ um 3,66 Punkte niedriger. Die Assoziation verfehlte hier allerdings mit einem p-Wert von 0,04 knapp das Signifikanzniveau.
Die Ergebnisse überzeugten die vom Science Media Centre in London befragten Experten nicht. Der Psychologe Thom Baguley von der Nottingham Trent University wies auf die enormen Schwankungen unter den einzelnen Korrelationen zwischen Fluor-Exposition und IQ-Wert hin („very noisy data“).
Oliver Jones von der RMIT University in Melbourne zweifelte die klinische Relevanz an, da nur wenige Kinder einer um mehr als 1 mg/l abweichenden Fluorkonzentration ausgesetzt waren. Der Umwelttoxikologe Alastair Hay von der Universität Leeds kritisierte, dass die Fragebögen zur Fluoraufnahme der Schwangeren nicht validiert wurden, und für den Psychologen Stuart Ritchie vom King's College London sind die statistischen Assoziationen insgesamt „ziemlich schwach und grenzwertig“.
Die von der Fachzeitschrift Science befragte Public Health-Forscherin Lindsay McLaren von der Universität von Calgary hält die Ergebnisse dagegen für „glaubwürdig und methodisch stimmig“. Die Frage sei jetzt, ob die Ergebnisse in weiteren epidemiologischen Studien bestätigt werden könnten. © rme/aerzteblatt.de

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