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Ärzteschaft

Medizin wird sich 2030 anders darstellen

Montag, 2. September 2019

/BillionPhotos.com - stock.adobe.com

Münster – Die Digitalisierung im Gesundheitswesen kann den Ärztemangel nicht behe­ben. Sie wird auch nicht den Goldstandard der direkten Arzt-Patienten-Beziehung erset­zen. Darauf hat Theodor Windhorst, Präsidenz der Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL), auf dem 12. Westfälischen Ärztetag hingewiesen.

Er lehnt die Digitalisierung an sich aber nicht ab. „Das, was an Dokumentationspflichten und Austausch an Daten nötig ist, um dem Patienten eine zügigere und Sektorengrenzen überschreitende Versorgung zukommen zu lassen, das sollten wir doch nutzen“, erklärte der ÄKWL-Präsident.

Für die Ärzte bedeute das, Patienten aufzuklären und sich selbst datenschutzrechtlich abzusichern. Ärzte könnten zudem nicht davon ausgehen, dass die Daten, die Patienten dem Arzt vorlegen, vollständig seien. Das Verschreiben von Gesundheits-Apps hält der Ärzte­kammerpräsident für sinnvoll, mahnte aber zugleich an, dass die dadurch erhobenen Daten nicht manipulierbar sein dürften.

Als „wichtigen Meilenstein in der digitalen Versorgung Nordrhein-Westfalens“ lobte er das Anfang August vom Landesgesundheitsministerium initiierte „Virtuelle Krankenhaus“. Es sei ein gutes Beispiel dafür, wie sich die fachliche Expertise von Universitätskliniken digital bündeln und landesweit besser zugänglich machen ließe, um die Versorgung zu verbessern.

Ausufern der globalen Medizin durch Kooperation verhindern

„Was mich erfreut, ist, dass Innovationen seit einigen Jahren aus der Medizin selbst kom­men“, betonte Rainer Beckers. Nach Ansicht des Geschäftsführers der Zentrum für Telema­tik und Telemedizin GmbH (ZTG) belegt das, dass zunehmend Versorgungsprozesse in den Blick genommen werden. „Und da ist die Goldgrube, wo wir Qualität und Wirtschaftlich­keit im Gesundheitswesen verbessern können.“ Das Gesundheitswesen werde sich da­durch neu ausrichten.

„Diese Neuausrichtung wird sich zwischen zwei Extremen abspielen“, ist Beckers über­zeugt. Das eine Extrem sei „der vollständig automatisierte und ständig verfügbare, all­wissende Arzt der Internetmedizin“, das andere Extrem der stets verfügbare, geduldige, empathische ärztliche Zuhörer. „Das eine wollen wir vielleicht gar nicht, das andere wer­den wir in der Form gar nicht mehr aufrechterhalten können.“

Für die Digitalisierung sei entscheidend, wie weit das Präsenzprinzip noch nötig ist. Mit der Auflösung dieses Prinzips werde die Medizin mobil und global und damit einen Schritt gehen, der in anderen Wirtschaftsbereichen schon längst gegangen ist. „Und das wird unsere Versorgung sehr verändern.“

Durch das Internet beschäftigten sich Patienten schon jetzt mit anderen Möglichkeiten der Versorgung. Hinzu komme das „digitale Versprechen der Internetmedizin“ wie etwa keine Wartezeiten, die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit und die Zweitmeinung von Spe­zia­­listen weltweit. Beckers geht daher davon aus, dass sich „das Präsenzprinzip in seiner Bedeutung demnächst neu legitimieren“ muss.

Dazu beitragen würden auch mobile Fernbehandlungs- und Diagnostikzentren, die Foto­automaten ähnelten und sich in Supermärkten, Bahnhöfen oder Flughäfen aufstellen ließen. Zwei dieser Zentren sollen als Pilotprojekt in den Gemeinden Spiegelberg und Zweiflingen in Baden-Württemberg starten, ein weiteres ist im Kreis Soest geplant.

„Das Präsenzprinzip wird auch dadurch weiter zurückgedrängt, dass der Patient heute schon mit einem Daten-Maß von erheblichem Umfang in die Praxis kommt.“ Dieser Um­fang werde zunehmen, betonte der ZTG-Geschäftsführer mit Blick auf neue Entwicklun­gen bei Wearables und Smartphones sowie der digitalen Toilette, die den Urin analysiert.

Gespräche bringen Ethik in den Rechner

Teamgeist ist auch bei der künstlichen Intelligenz (KI) gefragt. „KI kann nur dann helfen, wenn wir ausreichend viele Daten haben, die ausreichend gut sind“, betonte Katharina Anna Zweig. „Und das bedeutet, dass wir miteinander reden müssen“, so die Leiterin des Algorithm Accountability Labs an der Technischen Universität Kaiserslautern. Nur so ließen sich die ethischen Fragen in der KI lösen.

Die KI beruhe auf maschinellem Lernen und erkenne Korrelationen von Daten, nicht je­doch Kausalzusammenhänge. „Sind diese Korrelationen gefunden, werden sie als Ent­schei­dungs­regeln im Computer abgelegt.“ Dadurch könne die KI Normalfälle bestimmen, typische Krankheitsverläufe erkennen und Abweichungen detektieren.

Damit das zuverlässig klappt, sei das Gespräch nötig. „Wenn Sie mir sagen, was Sie haben wollen, kann ich das programmieren“, sagte Zweig. Nur so könne geklärt werden, ob der Fokus eines Algorithmus auf hoher Spezifität oder hoher Sensitivität liegen soll. Dadurch komme die Ethik in den Rechner.

IBM-Watson ist nach Ansicht Zweigs gescheitert, weil die Sensitivität des Algorithmus zu hoch war und dadurch zu oft auf seltene Erkrankungen verwiesen habe. Außerdem habe das System die Kultur des Krankenkassensystems mitgelernt. Und das sei in Amerika ein anderes als in Europa. „KI-Systeme sind nicht beliebig über Kulturgrenzen hinaus über­tragbar“. Das sei aber auch ein gutes Zeichen. Denn es zeige, dass es sich lohne, in ein deutsches KI-System zu investieren.

Darüber hinaus gebe es nur wenige KI-Systeme, die eine Diagnose sicher treffen würden. Eine Ausnahme sei das System des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg zur Erkennung von Melanomen. Bei den meisten Systemen seien die Daten­men­gen zu klein gewesen. „Wir brauchen also erst mal jede Menge Daten und die müssen vollständig sein. Sonst wird das nichts.“ Und diese Daten müssten für das, was die Ma­schine lernen soll, in einem Kausalzusammenhang stehen.

Ähnlich wie Beckers geht auch Zweig davon aus, dass es künftig noch mehr Wearables und damit noch mehr Daten geben wird. „Das heißt, wie gehen wir damit um, wenn Pa­tienten mit richtig vielen Daten auf uns zukommen und diese vielleicht in Excel schon vorsortiert haben? Da werden wir künftig noch viel stärker zusammenarbeiten müssen.“

Denkbar seien auch Anwendungen, die Texte von Arztbriefen erkennen und grafisch darstellen, um sich schneller in Krankengeschichten einarbeiten zu können. Die KI könne zudem künftig beim Auslesen von Daten helfen, die durch permanente Insulinsensoren, EKG- oder EEG-Ableitungen erfasst werden. „Es wird uns alle überwältigen“, ist Zweig überzeugt. Medizin werde sich 2030 sehr anders darstellen, sagte sie. Daher bedürfe es jetzt der Vorbereitung.

Den digitalen Wandel mitgehen – aber wie?

Den digitalen Wandel „beherzt und revolutionär“ umsetzen wollen die Krankenhäuser. „Wo wir revolutionär denken müssen, ist bei der Vernetzung“, sagte Jochen Brink. „Wir sind es gewohnt als Einzelkämpfer zu arbeiten. Jetzt können wir unser Wissen zusammen­brin­gen“, so der Präsident der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW).

Bei der Umsetzung der Digitalisierung seien die Kliniken gefordert, konkrete Projekte zu benennen. „Das ist eine Aufgabe des Managements. Sie müssen sich fragen, was sie da­mit wollen und dann muss ein ordentlicher Projektplan entwickelt werden.“ Außerdem sollten diese Projekte sektorenübergreifend gedacht und auch die Menschen mitgenom­men werden, die keinen Zugang zu digitalen Medien haben.

Den digitalen Wandel forcieren will das NRW-Gesundheitsministerium. „Wir wollen jetzt raus aus der Projektitis und rein in die Regelversorgung“, kündigte Helmut Watzlawik an, der im Ministerium die Abteilung Gesundheit leitet. Dabei lasse sich das oft beklagte Problem der Finanzierung mitunter einfach lösen. „Wenn man ein Krankenhaus als Zentrum ausweist, gibt es zusätzliche Gelder.“ Grundsätzlich gebe es „eine Vielzahl von Finanzierungsquellen in der Regelfinanzierung“.

Mit dem neuen „Virtuellen Krankenhaus“ verfolgt das Ministerium Watzlawik zufolge auch das Ziel, den ambulanten mit dem stationären Sektor zu verbinden. Die Details dazu soll der Gründungsausschuss des Krankenhauses erarbeiten.

Vom Modell in die Regelversorgung

Weniger Revolution als mehr Evolution sieht Thomas Müller beim digitalen Wandel. Jeder Arzt habe sein Praxisverwaltungssystem und sein Patientenmonitoring und das gelte es weiterzuentwickeln, betonte der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL). „Bei den Ärzten steht das auch unter dem Punkt Entlastung.“

Dabei müssten sie selbst erkennen, wo es Verbesserungspotenziale und wo es noch Hemm­­nisse gibt. Die könnten nach Ansicht Müllers auch beim Praxispersonal liegen. „Wir werden eine Fortbildungsreihe starten, weil wir auch da Hemmnisse abbauen und Moti­vation schaffen wollen.“ © ts/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #753715
Becker_Salutoconsult
am Montag, 2. September 2019, 18:52

Und die Dritten im Bunde, die Pflegekräfte?

Für die besonders vulnerable Gruppe der pflegebedürftigen Patienten, multimorbid und oft nicht mehr 100% selbst in der Lage die Interessen zu vertreten, sind die Pflegedienste und die Pflegeheime ein wesentlicher Akteur im Digitalisierungsgeschehen. Im Projekt "PFL-EX" zur Digitalisierung in der Altenpflege sind die Pflegekräfte bereit zum Einsatz eines von ihnen als relevant erachteten Spektrums digitaler Technologien; jedoch noch mangelt es an Ärzten, die mitmachen. In der Regel hapert es bei ihnen an den Kapazitäten zur Umstellung von Abläufen in der Praxis sowie am Vertrauen an die anderen Berufsgruppen, sowohl an die eigenen Praxismitarbeiterinnen als auch an die Pflegefachkräfte. Lob daher auch hier nochmal für die Herangehensweise von Frau Dr. Irmgard Landgraf in Berlin.
Christine Becker, Salutoconsult
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