Ärzteschaft
Scharfe Kritik an Rechtsprechung zur Entwöhnung von der Beatmungstherapie
Dienstag, 3. September 2019
Berlin – Intensivmediziner, Pneumologen und Medizincontroller haben sich in einem Brief, der dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt, an das Bundessozialgericht (BSG), die Sozialgerichte der Bundesländer und das Bundesjustizministerium gewandt und die Rechtsprechung zur Entwöhnung von der Beatmungstherapie kritisiert.
Hintergrund ist die Art, wie das BSG am 19. Dezember 2017 den Begriff „Entwöhnung“ auffasst. Das Gericht habe in seinem Urteil (Az. B 1 KR 18/17 R) zwei für Gutachter wie für behandelnde Ärzte medizinisch-fachlich nicht nachvollziehbare Feststellungen getroffen, so die Autoren des Briefes.
Dem BSG zufolge setzte eine Entwöhnung von einer Beatmung schon begrifflich eine Gewöhnung an die Beatmung voraus. Um beatmungsfreie Intervalle bei der Ermittlung der Beatmungsstunden zu berücksichtigen, wäre zuvor nachzuweisen, dass sich der Patient an die Beatmung gewöhnt habe. Auch sind Episoden mit einer Sauerstoffinsufflation laut BSG nicht zu berücksichtigen, da diese durch die Kodierrichtlinien ausgeschlossen seien.
Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören unter anderem Experten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der Deutschen Gesellschaft für Medizincontrolling und des Deutschen Zentrums für Lungenforschung.
Die Autoren des Schreibens betonten, es sei „nicht nur aus fachlich-medizinischer, sondern bereits aus sprachlicher Hinsicht falsch“, die Gewöhnung als Voraussetzung einer Entwöhnung zu definieren. Zweitens gebe es in der gesamten, weltweiten Fachliteratur zur modernen Beatmungsmedizin den Begriff der „Gewöhnung an eine Beatmung“ nicht.
Drittens sei eine intermittierende Spontanatmung mit Sauerstoffinsufflation das weltweit in Krankenhäusern am häufigsten durchgeführte Verfahren einer Entwöhnung nach einer Beatmung.
Die Experten kritisieren, dass offenbar „eine höchstrichterliche Rechtsprechung auch dann einem fachlich begründeten Sachverständigengutachten vorzuziehen ist, wenn sie im Gegensatz zu dem Gutachten fachlich unsinnig ist“.
Die Autoren warnten, würden Sachverständige durch die Sozialgerichte aufgefordert, zu begutachten, ob ein Patient gemäß der Rechtsprechung des BSG an die Beatmung gewöhnt sei, führe dies zu einem fachlich nicht lösbaren Konflikt zwischen ärztlichem Fachwissen und einer diesem entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung.
„Diese Entwicklung erfüllt Leistungserbringer, Krankenhausmanager und Gesundheitsökonomen mit Sorge“, so die Autoren des Briefes. Aus der Rechtsprechung resultiere ein Anreiz, Patienten länger und invasiver zu beatmen, als es medizinisch nötig wäre, um die erforderlichen intensivmedizinischen Strukturen und Ressourcen zu finanzieren. © hil/aerzteblatt.de

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