Ärzteschaft
„In der Psychiatrie ist das Personal der wichtigste Qualitätsindikator“
Mittwoch, 18. September 2019
Berlin – Morgen will der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Beschluss über die künftige Personalausstattung in psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern vorlegen. Gesetzlich vorgegeben ist, dass die seit fast 30 Jahren geltende Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) weiterentwickelt wird, weil sie die aktuellen medizinischen, rechtlichen und ethischen Standards in der Psychiatrie nicht mehr berücksichtigt. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Universitätsmedizin Berlin sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), über die Notwendigkeit, die Psych-PV nach aktuellen Standards weiterzuentwickeln.
5 Fragen an Andreas Heinz Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Universitätsmedizin Berlin
DÄ: Die Gewerkschaft ver.di hat mit einer Umfrage gerade festgestellt, dass es häufiger zu Zwangsmaßnahmen gegenüber Patienten kommt und auch zu Übergriffen gegen Ärzte und Pfleger, weil Personal beziehungsweise Zeit fehle in psychiatrischen Kliniken. Können Sie das bestätigen?
Andreas Heinz: Man braucht für Deeskalation und eine moderne psychiatrische Versorgung deutlich mehr Personal, als in den letzten 30 Jahren mit der Psychiatrie-Personalverordnung üblich war. Man kann mit mehr Personal Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie vermeiden, wenngleich nicht alle: Wenn jemand beispielsweise in einer Psychose plus Drogenkonsum die Situation komplett verkennt und sich oder anderen etwas antuen will, kommen wir zum Schutz der Betroffenen nicht darum herum. In ganz vielen Fällen aber können wir beispielsweise mit einer Eins-zu-eins-Betreuung, mit Gesprächen und Zuwendung, die Situation deeskalieren – ohne Zwangsmaßnahmen.
Darüber hinaus wird in vielen Landes-Psychisch-Krankengesetzen seit einigen Jahren vorgegeben, dass die Unterbringung nach Möglichkeit offen erfolgen soll. Wir öffnen deshalb möglichst die Stationstüren in der Charité. Aber die Patienten müssen dann natürlich auch betreut werden: durch Gespräche und Interaktionen gewinnt man sie dafür, auf Station zu bleiben.
Es gibt in der Psychiatrie viele Situationen, in denen Personal extrem wichtig ist, um Krisen zu deeskalieren oder sich anbahnende Auseinandersetzungen zu entschärfen, damit Selbst- oder Fremdgefährdung vermieden wird. Aber natürlich sind nicht alle Patienten auf Akutstationen gesetzlich untergebracht, sondern deren Zahl liegt bei rund zehn Prozent.
DÄ: Gibt es an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité, die Sie leiten, Personalmangel?
Heinz: In Berlin haben wir zumindest keinen Mangel an Bewerbungen. Aber schon in Brandenburg wird es zum Teil katastrophal. Dort gibt es in vielen Berufsgruppen zu wenig Personal. Wir haben zwar Kooperationen mit Kliniken in Brandenburg, also wir vermitteln Ärzte, die wir nicht einstellen können, dorthin weiter. Aber viele wollen einfach auch nicht aufs Land.
DÄ: Liegt also der Personalmangel in psychiatrischen Kliniken an zu wenigen Bewerbern oder tatsächlich an der Psychiatrie-Personalverordnung, die nicht mehr das geeignete Instrument ist, um die Kliniken mit einer angemessenen Zahl an Mitarbeitern auszustatten?
Heinz: Die Psych-PV müsste unbedingt modernisiert werden, und gleichzeitig brauchen wir wie bisher Soll-Vorgaben für das Personal. Wenn es die nicht mehr gibt, werden die finanziellen Vorgaben entscheiden, wieviel Personal nach ökonomischen Gesichtspunkten ausreicht.
Die Frage ist dann nicht, wieviel Personal brauchen wir zum Beispiel zur Deeskalation, sondern wie viele werden eingestellt, um ein vorgegebenes Budgetziel zu erreichen. Solch eine Ausrichtung nach ökonomischen Interessen geht natürlich gar nicht, denn in der Psychiatrie ist das Personal – gut ausgebildet – der wichtigste Qualitätsindikator. Personal in der Psychiatrie einzusparen, wäre so, als würden in der Chirurgie die Operationsinstrumente nicht mehr sterilisiert.
DÄ: Der Gemeinsame Bundesausschuss will am 19. September eine Richtlinie zur Personalausstattung in der Psychiatrie beschließen. Sie fordern eine Modernisierung der alten Psych-PV. Warum ist das notwendig?
Heinz:In den letzten 30 Jahren hat sich sehr viel verändert. Die Patienten brauchen unter anderem mehr Psychotherapie. Die Psych-PV sieht im Akutbereich nur sehr wenig psychotherapeutische Gespräche vor, denn vor 30 Jahren vertraten viele Experten noch den Standpunkt, dass fast alle psychischen Erkrankungen medikamentös zu behandeln seien.
Heute weiß man, dass man die Menschen immer auch mit Gesprächen erreicht, Vertrauen schafft, Ängste und Unsicherheiten reduziert werden. Das sind alles psychotherapeutisch relevante Interaktionen, deren Zeiten in der Psych-PV nicht vorgesehen sind.
Darüber hinaus wollen und sollen die Pfleger mehr therapeutisch arbeiten, beispielsweise Gruppenedukation anbieten oder Angehörigengruppen. Das ist sehr unterstützenswert.
In begrenztem Umfang brauchen wir auch mehr Sozialarbeiter. Denn es gibt beispielsweise einen deutlichen Anstieg von Obdachlosigkeit unter psychisch Kranken, denen oftmals die Wohnung gekündigt wird, wenn sie psychisch auffällig werden. Um diese Menschen müssen wir uns kümmern. So gibt es in vielen Bereichen eine Weiterentwicklung, die man berücksichtigen muss.
DÄ: Denken Sie, dass der G-BA in diesem Sinne entscheiden wird?
Heinz: Was wir hören, ist, dass der G-BA unterhalb der derzeit geltenden Psych-PV eine Personalgrenze einziehen will. Das wäre dann keine Soll-Grenze mehr wie bei der Psych-PV, sondern eine Untergrenze. Ab da wird dann gar nicht mehr erstattet. Man redet also über das nackte Minimum und nicht darüber, was auf Station idealerweise sein sollte.
Nach Informationen der DGPPN wird beim G-BA unter anderem der Vorschlag diskutiert, das Minimum so niedrig wie möglich zu halten, damit die Krankenkassen den Kliniken nichts abziehen können. Denn das könnte zur Insolvenz von regionalen Krankenhäusern führen und zur Rückkehr zu den alten Bettenburgen, die wir in der Psychiatrie vor langer Zeit hatten.
Wir haben keine Garantie dafür, dass ein Budget oberhalb dieser Mindestbesetzung verhandelt wird. Zudem haben wir die Sorge, dass die kaufmännischen Geschäftsführer der Krankenhäuser aufgrund des ökonomischen Drucks Personal solange abbauen, bis die Personalmindestgrenze erreicht ist. Und das wäre ein dramatischer Rückschritt. © PB/aerzteblatt.de

Ernüchterung
Die Dominanz der Pflegekräfte im Bereich des therapeutischen Settings ist beunruhigend. Der pädagogisch begleitenden Aspekt soziotherapeutischer Eingriffe in das Leben der Patienten bedarf meiner Ansicht nach doch einer qualifizierten Bildung.Oft habe ich gesehen wie das geforderte Therapeutische Arbeiten von Pflegekräften in Retraumatisierungen geendet hat. Auch konnte oft das fehlen Fingerspitzengefühl des examinierten Laie mit übertragenen Aufgaben deutlich hervortreten. Psychoedukation ist kein Versuchsfeld sondern sollte ausgebildeten Fachleuten vorbehalten sein. Mir scheint der Versuch mehr Aufgaben auf die Pflege zu übertragen , einem Entlastungsgedanken für Ärzte zu folgen. Auch ist in diesem Artikel die Sozialarbeit in einer Psychiatrie begrenzt erfasst und dargestellt. Gerade die Sozialarbeit bedient doch viele für die Genesung unabdingbare Realitäten. Ohne diesen wichtigen Baustein wäre ein Anschluss an die Lebenswirklichkeit schwerlich vorstellbar. Oft war der Sozialarbeiter der Station der meistbesuchteste Therapeut. Oft war nicht die Pflege oder der Arzt erster Ansprechpartner für den Patienten.Oft war es der Sozialarbeiter. Über ihn bildeten sich die Netzwerke aus und forcierten sich weitere Hilfen. Selbst ich nutze diese Netzwerke in meinem regelmäßigen Klinikalltag als Schnittstelle. Und genau diese Berufsgruppe, die immer so leise Auftritt und doch so unentbehrlich scheint hat keine Lobby. Ihr Fähigkeiten werden verkannt und doch täglich genutzt. Unsere Station hatte einst 3 Sozialarbeiter. Nun sind es noch 1. Und die Kombination der Erkrankungen beinhaltet überwiegend Problematiken der äußeren und inneren Welt. Und nur wenn es gelingt beide Teile zu verbinden ist die bestmögliche Heilungsmöglichkeit gegeben.Sozialarbeit hat noch einen großen Vorteil gegenüber aller anderen Berufsgruppen. Sie ist Beziehungsarbeit und schafft Vertrauen . Dieses über das Vertrauen aufgebaute wissen ist dann wiederum meine Grundlage um damit zu arbeiten.

Psychiatrie im Rückwärtsgang

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