Ärzteschaft
Schlaganfälle bei Kindern werden zu spät erkannt und behandelt
Dienstag, 8. Oktober 2019
Berlin – Ein Schlaganfall kann nicht nur Erwachsene treffen. Jährlich erleiden in Deutschland 300 bis 500 Kinder einen Schlaganfall. Doch gerade in dieser sensiblen Altersgruppe weist die medizinische Versorgung offenbar gravierende Mängel auf.
„Während die Behandlung erwachsener Schlaganfallpatienten in Deutschland einem ausgefeilten Protokoll folgt und auf eine schnellstmögliche Versorgung ausgerichtet ist, dauert es bei Kindern noch immer durchschnittlich 23 Stunden, bis überhaupt die Diagnose gestellt wird“, sagte Lucia Gerstl, Leiterin des Deutschen Netzwerks Pediatric Stroke, heute bei einer Pressekonferenz der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft in Berlin.
Dabei gelte die Devise „Time is Brain“ bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen – je schneller diagnostiziert und behandelt werde, desto geringer sei das Ausmaß der bleibenden Schäden. „Nur rund jedes dritte Kind erholt sich nach einem Schlaganfall vollständig, bei einem Großteil kommt es zu langfristigen neurologischen Beeinträchtigungen wie einer Halbseitenlähmung oder einer Epilepsie“, berichtete Gerstl.
Ursachen für die bis dato mangelhafte Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit akutem Schlaganfall gibt es Gerstl zufolge mehrere: „Es fehlt an Awareness“, so die Münchner Neuropädiaterin. Sei es die Familie, Rettungs- und Pflegepersonal oder Mediziner, beim Kind werde nicht sofort an einen Schlaganfall gedacht. Noch dazu gibt es im Kindesalter mehr Differenzialdiagnosen für Schlaganfallsymptome als bei Erwachsenen. So vergeht wertvolle Zeit bis zur Diagnosestellung und Behandlung.
In einer Studie, für die Gerstl gemeinsam mit Kollegen kindliche und jugendliche Schlaganfallpatienten untersuchte, zeigte sich, dass mehr als 90 Prozent der Kinder als erste Anzeichen fokale Ausfallerscheinungen wie eine Halbseitenlähmung, Gesichtslähmungen oder plötzlich auftretende Sprachstörungen entwickelten.
„FAST-Symptome sollten auch bei Kindern immer an einen Schlaganfall denken lassen und Anlass für eine sofortige bildgebende Untersuchung sein“, betonte Gerstl. Dies gelte auch dann, wenn gleichzeitig eher unspezifische Beschwerden wie Übelkeit oder Kopfschmerzen oder aber auch Krampfanfälle aufträten.
Der Face-Arm-Speech-Time (FAST)-Ansatz zur Ersteinschätzung von Patienten zeigt bei Kindern allerdings eine geringere Sensitivität als bei Erwachsenen. Um die Erkennung des kindlichen Schlaganfalls zu verbessern, modifizierten die Münchner Forscher den Ansatz und entwarfen die in drei Abschnitte gegliederte beFAST-Kitteltaschenkarte zur Ersteinschätzung pädiatrischer Patienten.
Doch nicht nur bei der Diagnose, auch bei der Behandlung des kindlichen Schlaganfalls hapert es: „Es gibt keine Studien zu Lysetherapie und Thrombektomie bei Kindern“, sagte Gerstl. „Alles, was wir haben, sind Erfahrungen, Expertenmeinungen und Fallberichte.“ Erst im vergangenen Jahr ist das erste deutschsprachige Handbuch zum kindlichen Schlaganfall (Pediatric Stroke Manual, Kohlhammer 2018) erschienen. An einer S3-Leitlinie und dem Aufbau eines Registers wird gerade gearbeitet.
Das Deutsche Netzwerk Pediatric Stroke setzt sich außerdem dafür ein, die Kinderneurologie als Notfalldisziplin zu etablieren sowie interdisziplinäre Strukturen zur Akut- und Langzeitversorgung zu schaffen, auch unter Einsatz von Telemedizin. „Das oberste Ziel muss es sein, die Zeit bis zur Diagnose und zum Therapiebeginn zu verringern, damit auch der Einsatz von Lysetherapie und mechanischer Thrombektomie grundsätzlich möglich ist, sagte Gerstl und ergänzte: „In der Postakutphase ist die Verringerung der hohen Rezidivrate von im Mittel rund 30 Prozent bei Kindern eine unserer Prioritäten.“
Eine zentrale Rolle spielt hierbei auch die Ursachenforschung: Denn in der Studie der Münchner Forscher um Gerstl wiesen 40 Prozent der betroffenen Kinder mindestens zwei der bekannten Risikofaktoren für einen Schlaganfall im Kindesalter auf.
Die Hauptursachen für Schlaganfälle im Erwachsenenalter spielen beim kindlichen Schlaganfall keine Rolle, erklärte Gerstl. Vielmehr seien es Blutgerinnungsstörungen, Herzerkrankungen, entzündliche Veränderungen der Hirngefäße, schwere Infektionen, Stoffwechselstörungen oder genetische Ursachen, die bei Kindern und Jugendlichen zu einem Schlaganfall beitrügen. Diesen Risikofaktoren mehr Beachtung zu schenken, könnte den Weg zu einer schnelleren Diagnose, aber auch zur Vermeidung weiterer Schlaganfälle ebnen.
© nec/aerzteblatt.de

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