Medizin
Kleinhirnblutungen: Operation könnte nur bei größeren Blutungen vorteilhaft sein
Mittwoch, 9. Oktober 2019
Erlangen – Bei spontanen Blutungen in das Kleinhirn, die heute überwiegend auf den Einsatz von oralen Antikoagulanzien zurückzuführen sind, wird bisher wegen der Gefahr einer Hirnstammschädigung eine rasche operative Evakuierung des Hämatoms angestrebt. Die Behandlungsergebnisse sind laut einer retrospektiven Studie im amerikanischen Ärzteblatt (JAMA 2019; 322: 1392-1403) jedoch nicht immer besser als bei rein konservativer Versorgung.
In Deutschland erleiden jährlich etwa 35.000 Menschen eine akute Hirnblutung. Bei jedem 10. Patienten ist sie im Kleinhirn lokalisiert. Diese infratentoriellen Blutungen sind besonders gefährlich, weil die hintere Schädelgrube räumlich begrenzt ist und auch kleinere Raumforderungen den Hirnstamm mit seinen lebensnotwendigen Kontrollzentren komprimieren können.
Seit 1984 ist eine möglichst rasche chirurgische Evakuierung der Blutung die bevorzugte Behandlung. Die Operation ist jedoch riskant, und bisher ist nicht durch randomisierte klinische Studien belegt, dass sie den Patienten unter dem Strich nutzt.
In Ermangelung prospektiver Daten hat ein Team um den Neurologen Hagen Huttner vom Universitätsklinikum Erlangen die Daten aus 4 Kohortenstudien aus Deutschland (RETRACE I und II, UKER-ICH) und den USA (ERICH) ausgewertet.
Die Forscher haben nach dem heutigen Standard die Daten aller Patienten recherchiert („individual participant data“-Analyse) und in einer „Propensity Score“-Analyse nur Patienten mit gleichen Eigenschaften gegenübergestellt. Dadurch soll verhindert werden, dass eine Ungleichverteilung von Risikofaktoren die Ergebnisse verfälscht.
Das „Matching“ der 152 Patienten in den beiden Gruppen war nicht ganz optimal, da die operierten Patienten etwas jünger waren (68,9 versus 69,2 Jahre) und das Blutungsvolumen etwas größer war (20,5 cm3 versus 18,8 cm3). Die operierten Patienten waren häufiger männlich (55,9 versus 51,3 %) und die Blutung wurde etwas seltener durch Antikoagulantien (60,5 versus 63,8 %) ausgelöst. Diese Unterschiede lassen sich jedoch mit statistischen Methoden „adjustieren“.
Die Gesamtauswertung ergab, dass die Überlebenschancen der Patienten nach einer Operation zwar insgesamt besser waren. Nach 3 Monaten lebten noch 78,3 % gegenüber 61,2 % nach einer konservativen Behandlung. Die adjustierte Odds Ratio von 1,25 war mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1,07 bis 1,45 signifikant und der absolute Unterschied von 18,5 Prozentpunkten wäre an sich ein klinisch relevanter Vorteil.
Viele Patienten, die die Operation überleben, haben danach jedoch starke Beeinträchtigungen (Pflegebedürftigkeit, Bettlägerigkeit). Der Anteil der Patienten, die ohne oder mit leichten Beeinträchtigungen entlassen werden, die ein Leben ohne Hilfe im Alltag erlauben (modifizierte Rankin-Skala mRS 0 bis 3), war mit 30,9 % nur unwesentlich niedriger als nach konservativer Behandlung mit 35,5 %. Die adjustierte Odds Ratio (0,94; 0,81 bis 1,09) war nicht signifikant.
zum Thema
aerzteblatt.de
Die Forscher haben nach Faktoren gesucht, die für eine Operation sprechen. In einer explorativen Subgruppen-Analyse kristallisierte sich die Größe der Blutung als mögliches Kriterium heraus.
Bei einem Blutungsvolumen von weniger als 12 cm3 wurde nach einer chirurgischen Evakuierung nur bei 30,6 % der Patienten ein mRS 0 bis 3 erreicht gegenüber 62,3 % nach einer konservativen Behandlung. Der absolute Unterschied von 34,7 Prozentpunkten (30,6 bis 38,8 %) war signifikant. Ein Verzicht auf die Operation könnte hier die bessere Entscheidung sein.
Bei einem Blutungsvolumen von mehr als 15 cm3 war die Operation mit einer deutlich höheren Überlebenswahrscheinlichkeit (74,5 versus 45,1 %) assoziiert. Die absolute Differenz von 28,2 Prozentpunkten (24,6 bis 31,8 Prozentpunkten) war statistisch signifikant. Eine Operation könnte hier entscheidende klinische Vorteile haben.
Trotz der genauen Datenanalyse bleibt die Evidenz, wie immer in retrospektiven Analysen, begrenzt. Ein Beweis kann laut den Autoren nur in einer randomisierten klinischen Studie erbracht werden. Die Studienergebnisse liefern deshalb in erster Linie Hypothesen für künftige Studien. Ohne sie fehle weiterhin die abschließende Gewissheit darüber, welche Patienten von einer Operation profitieren, heißt es in der begleitenden Pressemitteilung.
© rme/aerzteblatt.de
Liebe Leserinnen und Leser,
diesen Artikel können Sie mit dem kostenfreien „Mein-DÄ-Zugang“ lesen.
Sind Sie schon registriert, geben Sie einfach Ihre Zugangsdaten ein.
Oder registrieren Sie sich kostenfrei, um exklusiv diesen Beitrag aufzurufen.
Login
Loggen Sie sich auf Mein DÄ ein
Passwort vergessen? Registrieren

Nachrichten zum Thema


Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.