Medizin
Paracetamol im Nabelschnurblut zeigt in Studie erhöhtes Risiko auf ADHS und Autismus an
Freitag, 1. November 2019
Baltimore – Neugeborene, in deren Nabelschnurblut Metabolite des Schmerzmittels Paracetamol nachgewiesen wurden, erkrankten in einer prospektiven Beobachtungsstudie bis zum Alter von 10 Jahren häufiger an einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) oder an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASD). Die in JAMA Psychiatry (2019; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2019.3259) vorgestellten Ergebnisse überzeugen jedoch nicht alle Experten.
Paracetamol ist ein bei Schwangeren äußerst beliebtes Medikament. In Europa greift jede zweite hin und wieder zu dem rezeptfrei erhältlichen Schmerzmittel. In den USA sollen es sogar 2 von 3 Schwangeren sein. Dabei ist die Sicherheit von Paracetamol in der Schwangerschaft umstritten. Das Mittel passiert die Plazentaschranke und in epidemiologischen Studien wurden mehrfach Assoziationen einer Einnahme von Paracetamol mit späteren Erkrankungen der Kinder gefunden. Diese betrafen ein erhöhtes Risiko von Asthma bronchiale, Kryptorchismus sowie ADHS und ASD.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat 2015 vor einem unkritischen Einsatz von Paracetamol (aber auch anderen Schmerzmitteln wie NSIAD oder Opiaten) in der Schwangerschaft gewarnt – gleichzeitig aber anerkannt, dass unbehandelte Schmerzen durch Depressionen, Angstzustände und arterielle Hypertonie die Gesundheit des Kindes gefährden könnten. Da NSAID mit Fehlgeburten und Opiate mit Fehlbildungen in Verbindung gebracht werden, gilt Paracetamol als das weniger riskante Schmerzmittel.
Gegen die epidemiologischen Studien wurde eingewendet, dass sie zumeist auf den Angaben der Schwangeren beruhen, die nicht verlässlich sind. Die Boston Birth Cohort bot jetzt die Möglichkeit, die Analyse auf eine objektivere Basis zu stellen. Bei den 996 Teilnehmern war bei der Geburt das Nabelschnurblut des Kindes und eine Blutprobe der Mutter archiviert worden.
Dosisabhängiges Risiko für ADHS und ASD
Darin hat ein Team um Xiaobin Wang von der Bloomberg School of Public Health in Baltimore jetzt die Konzentration von Paracetamol-Metaboliten bestimmen lassen. Die Forscher teilten die Kinder in 3 gleich große Gruppen (Tertil) mit einer niedrigen, mittleren und hohen Paracetamol-Exposition ein.
Die Kinder in den beiden oberen Tertilen erkrankten bis zum Alter von 9,8 Jahren mehr als doppelt so häufig an ADHS und/oder ASD als Kinder im untersten Tertil. Die Odds Ratio auf eine ADHS-Diagnose betrug für das 2. Tertil 2,26 (95-%-Konfidenzintervall 1,40 bis 3,69) und für das dritte Tertil 2,86 (1,77 bis 4,67). Die entsprechenden Odds Ratios für eine ASD-Diagnose waren 2,14 (0,93 bis 5,13) für das zweite Tertil und 3,62 (1,62 bis 8,60) für das dritte Tertil.
Die Assoziationen waren damit dosisabhängig (was als Hinweis auf eine Kausalität gedeutet wird), und sie erwiesen sich in Sensitivitäts- und Subgruppenanalysen als robust, was einige andere Ursachen ausschließt.
Paracetamol wirkt nur kurzfristig
Sollte deshalb erneut vor der Einnahme von Paracetamol gewarnt werden? Experten raten Schwangeren grundsätzlich dazu, so wenig Medikamente wie möglich einzunehmen. Das gilt insbesondere für Substanzen, die über die Plazenta den Feten erreichen. Paracetamol kann grundsätzlich zu diesen bedenklichen Substanzen gezählt werden.
Das Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin, ein mit öffentlichen Geldern gefördertes Institut, bewertet Paracetamol in der Schwangerschaft dennoch positiv: Bei medikamentös behandlungspflichtigen Schmerzen in jeder Phase der Schwangerschaft gehöre es zu den Analgetika der Wahl.
Embryotox: Ampelsystem zum embryo- und fetotoxischen Risiko von Medikamenten
Die App Embryotox unterstützt Ärztinnen und Ärzte, die richtige Pharmakotherapie für Patientinnen in der Schwangerschaft und auch noch während der Stillzeit auszuwählen. In einem Verzeichnis können die meisten gängigen Medikamente mit Hinweisen auf die Studienlage bezüglich einer unbedenklichen Applikation nachgeschlagen werden. Ein Ampelsystem (Rot, Grün, Grau) erleichtert die Beurteilung der
Die vom Science Media Center in London befragten Experten bewerten die Ergebnisse der Studie zurückhaltend. Die Einwände betreffen die einmalige Bestimmung von Paracetamol im Nabelschnurblut. Paracetamol hat eine kurzfristige Wirkung von wenigen Stunden. Die Konzentration im Nabelschnurblut könne deshalb nicht repräsentativ für die Einnahme während der Schwangerschaft sein, erklärten die britischen Experten. Sie wunderten sich auch darüber, dass bei praktisch allen Neugeborenen Paracetamol-Metaboliten im Nabelschnurblut nachgewiesen wurde.
zum Thema
- Abstract in JAMA Psychiatry 2019
- Pressemitteilung des National Institute of Child Health and Human Development 2019
- Registrierung der Studie
- Drug Safety Communication der FDA vom September 2005
aerzteblatt.de
- Paracetamol in der Schwangerschaft könnte das spätere Verhalten der Kinder beeinflussen
- Allergierisiko bei Säuglingen durch Antibiotika und Säureblocker erhöht
- Auch Ibuprofen in der Frühschwangerschaft könnte Töchter unfruchtbar machen
- Paracetamol in der Schwangerschaft könnte Sprachentwicklung beeinträchtigen
- Paracetamol könnte Fertilität der Töchter vermindern
Auch die ungewöhnlich hohe Zahl von Diagnosen verwundert die Experten. Im Alter von 8,9 Jahren war bei 25,8 % eine ADHS, bei 6,6 % eine ASD und bei 4,2 % beide Störungen diagnostiziert worden.
Die Epidemiologin Jean Golding von der Universität Bristol vermisst Angaben zu den Gründen für die Einnahme von Paracetamol, denn es könnte ja sein, dass die Erkrankung und nicht die Medikation für das erhöhte Risiko verantwortlich ist. Die prinzipiellen Einwände verwundern ein wenig, da Golding kürzlich in einer eigenen epidemiologischen Studie Hinweise auf vermehrte Verhaltensstörungen von Kindern gefunden hatte, die während der Schwangerschaft Paracetamol exponiert waren. Dazu gehörten ein hyperaktives oder weniger aufmerksames Verhalten, eine verminderte Anpassungsfähigkeit, ein geringeres Durchhaltevermögen sowie eine vermehrte Hyperaktivität. Dies sind alles Merkmale, die zur Diagnose einer ADHS passen. © rme/aerzteblatt.de
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"nicht alles"- natürlich nicht!
Niemals nimmer nie nicht hat man behauptet, dass "alles" bei ADHS und ASS genetisch bedingt sei.
Insofern liefert der Kommentar nichts Neues.
Der Artikel hingegen schon, und zwar insoweit, dass auch Paracetamol nicht "einfach so" geschluckt werden sollte, was viele Schwangere nicht wissen (können).

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