Medizin
Wie sich das Gehirn nach der Entfernung einer Hemisphäre neu verdrahtet
Mittwoch, 20. November 2019
Pasadena – US-Hirnforscher haben untersucht, warum die Entfernung einer Großhirnhälfte, Hemisphärektomie, in der Kindheit häufig nur mit geringen neurologischen Ausfällen im Erwachsenenalter verbunden ist. Ihre Publikation in Cell Reports (2019; doi: 10.1016/j.celrep.2019.10.067) zeigt, dass die neuronalen Verbindungen (Konnektivität) innerhalb der verbliebenen Hemisphäre verstärkt werden.
Die 6 Personen, die am Caltech Brain Imaging Center in Pasadena in einem 3 Tesla Magnetresonanztomografen untersucht wurden, waren im Kindesalter an schweren Epilepsien erkrankt. Ein Kind war mit einer kortikalen Dysplasie geboren worden, 2 hatten perinatal einen Schlaganfall erlitten, die anderen 3 waren an einer Rasmussen-Enzephalitis erkrankt, einer (autoimmunen?) Entzündung, die typischerweise auf eine Hirnhälfte beschränkt bleibt.
Bei allen 6 Kindern war im Alter von 3 Monaten bis 11 Jahren eine Hemisphärektomie durchgeführt worden, weil die epileptischen Anfälle nicht durch Medikamente unterdrückt werden konnten.
Mittlerweile sind die Patienten zwischen 21 und 31 Jahre alt, und die Untersuchungen zeigen, dass alle 6 mit einem halben Großhirn relativ gut zurechtkommen. Alle haben sich von der Operation erholt und haben heute relativ normale kognitive Fähigkeiten. Dass ein Teil ihrer Schädelhöhle leer ist, merke man ihnen bei einem oberflächlichen Kontakt nicht an, berichten Dorit Kliemann und Mitarbeiter vom California Institute of Technology in Pasadena.
Hemisphärektomien werden seit 90 Jahren durchgeführt. Die ersten Patienten waren an malignen Hirntumoren erkrankt, die jedoch durch die Operation nicht geheilt werden konnten. Heute ist die Entfernung einer Großhirnhälfte eine Ultima Ratio bei Epilepsien im Kindesalter. Dass die Kinder sich danach vollständig erholen, ist nicht ungewöhnlich. Hirnforscher führen dies auf die hohe Plastizität des Gehirns im Kindesalter zurück.
Neuorganisation notwendig
Doch wie genau das Gehirn die Funktion der fehlenden Hemisphäre kompensiert, ist nicht bekannt. Viele Aufgaben müssen neu organisiert werden. Dazu gehört die Steuerung der Motorik und die Verarbeitung von sensorischen Signalen, die normalweise auf der gegenüberliegenden Großhirnhälfte erfolgt. Einige Verarbeitungszentren, etwa die Wernicke- und Broca-Areale, sind nur auf einer Hemisphäre vorhanden. Sie müssen nach deren Entfernung komplett neu aufgebaut werden.
Die Erforschung der Plastizität steht noch am Anfang. Ebenso wie sich die Daten einer Festplatte nicht mit einem Mikroskop ablesen lassen, sind die Möglichkeiten der Bildgebung beschränkt. Die Forscher aus Kalifornien bedienten sich einer Variante der funktionellen Magnetresonanztomografie, die anhand des vermehrten Sauerstoffverbrauchs (BOLD) die Aktivität der verschiedenen Hirnzentren untersucht.
Das Verfahren wurde ursprünglich als funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) verwendet, um anhand des Anstiegs der BOLD die Hirnzentren zu identifizieren, die an bestimmten Hirnfunktionen beteiligt sind. Die BOLD zeigt jedoch auch im Ruhezustand spontane Schwankungen. Diese „resting state“ fMRT erlaubt Rückschlüsse auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Hirnzentren („Konnektivität“).
zum Thema
- Abstract der Studie
- Pressemitteilung des California Institute of Technology
- Pressemitteilung des Journals
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aerzteblatt.de
Kliemann und Mitarbeiter können jetzt zeigen, dass es Unterschiede zwischen den sechs hemisphärektomierten Patienten und Menschen mit vollständiger Großhirnrinde gibt. Die Forscher untersuchten die Beziehungen zwischen 7 Netzwerken („parcellation schemes“), die sich aufgrund der „resting state“ fMRT unterscheiden lassen. Diese Netzwerke sind unter anderem an visuellen, motorischen, emotionalen und kognitiven Leistungen beteiligt.
Die Forscher hatten zunächst vermutet, dass die Konnektivität zwischen den Zentren bei den 6 hemisphärektomierten Patienten, vermindert ist, da ja keine Signale aus der anderen Hirnhälfte eintreffen können. Das Gegenteil war der Fall. Die Konnektivität und damit vermutlich auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Netzwerken war deutlich verstärkt.
Die Studie liefert damit einen ersten Einblick, wie die Funktionen der fehlenden Hemisphäre kompensiert werden. Wohin die Aufgaben delegiert werden und wie genau die Reorganisation des Gehirns vonstatten geht, bleibt jedoch noch vollständig im Dunkeln. © rme/aerzteblatt.de
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