Politik
Rechtsgutachten empfiehlt digitale Pflegehelfer als Kassenleistung
Mittwoch, 12. Februar 2020
Berlin – Sturzerkennungssysteme, die einen Notruf auslösen, automatische Abschaltsysteme für Haushaltsgeräte oder ein smartes Wendebett – digitale Assistenzsysteme können den Alltag von pflegebedürftigen Menschen und Pflegenden erheblich erleichtern, indem sie zu mehr Sicherheit und Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen zu Hause beitragen.
Daher sollten Pflegekassen digitale Systeme mit pflegeunterstützender Wirkung erstatten. Das hat der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) heute in Berlin unter Bezug auf ein aktuelles Rechtsgutachten der Rechtsanwaltsgesellschaft Dierks + Company gefordert.
„Insbesondere in der Pflege werden die Potenziale der Digitalisierung im Vergleich zu vielen anderen Lebensfeldern nur unzureichend genutzt“, erklärte vzbv-Vorstand Klaus Müller. Dabei sehe der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vor, dass die pflegerische Versorgung durch digitale Anwendungen verbessert werden soll.
Zu denken sei dabei nicht nur an die pflegerische Dokumentation oder autonome Roboterassistenten, sondern schon kleine digitale Hilfsmittel in der Pflege könnten für Betroffene und ihre Angehörigen eine große Wirkung entfalten.
Mangelnde Kostenerstattung als entscheidende Hürde
Digitale Assistenzsysteme seien keinesfalls technische Spielereien, betonte er. Sie unterstützten die Pflegebedürftigen, indem sie diesen trotz abnehmender geistiger oder körperlicher Fähigkeiten eine selbstständige Lebensführung ermöglichen, die Kommunikation mit dem Umfeld unterstützen oder für Komfort und Sicherheit sorgen.
Gleichzeitig trügen sie zur Entlastung derjenigen bei, die in der Pflege tätig seien – Angehörige und Pflegekräfte. Umfragen zufolge wollten zudem 90 Prozent der Menschen im Alltag zu Hause gepflegt werden, und ebenso viele würden dafür auch digitale Anwendungen nutzen.
Inzwischen gibt es Müller zufolge entsprechende digitale Pflegeprodukte auf dem Markt. Dennoch sind Angebot und Nachfrage bislang überschaubar. Das Haupthindernis sieht der Bundesverband in der fehlenden Kostenerstattung, denn: „Damit die neuen Möglichkeiten im Alltag ankommen, dürfen Pflegebedürftige, die sie nutzen wollen, nicht mit den Kosten allein gelassen werden“, so der vzbv-Vorsitzende.
Hinzu kommt verbreitete Unkenntnis über diesen Bereich, da Assistenzsysteme nicht Inhalt der Pflegeberatungsrichtlinien sind, sondern allenfalls in den Bereich der Beratung über Pflegehilfsmittel und Wohnraumanpassungen fallen.
Befremdliche Argumentation
Derzeit sind lediglich Hausnotrufsysteme und Pflegebetten mit geringem Funktionsumfang im Hilfsmittelverzeichnis der Kranken- und Pflegekassen enthalten. Bei nicht gelisteten Produkten zögerten die Kassen jedoch mit der Kostenübernahme.
Dabei enthält das Hilfsmittelverzeichnis laut Müller teilweise befremdliche Begründungen für die Ablehnung der Kostenübernahme: „Tablettenspender mit Erinnerungsfunktion fallen nicht in die Leistungspflicht der sozialen Pflegeversicherung, da die Erinnerungsfunktion auch auf herkömmliche Art und Weise sichergestellt werden kann, zum Beispiel mit einem analogen Wecker“, zitierte Müller.
Zu den Kosten führte er einige Beispiele an: Digitale Anwendungen zur Verbesserung der körperlichen und kognitiven Fähigkeiten beginnen bei 350 Euro aufwärts. Ein Ortungssystem mit integriertem Notruf liegt zwischen 350 bis 1.200 Euro, das digitale Wendebett kostet ihm zufolge etwa 5.000 Euro.
Sturzerkennungssysteme mit Infrarotsensoren für die gesamte Wohnung können hingegen bei mehreren Tausend Euro liegen. Lehnt eine Versicherung die Kostenübernahme ab, müssen die Betroffenen dafür entweder selbst aufkommen oder die Erstattung vor dem Sozialgericht einklagen.
Rechtliche Anpassungen nötig
Laut dem sachverständigen Gutachter Christian Dierks ermöglichen die gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen im Sozialgesetzbuch (SGB) keine ausreichende Versorgung der Versicherten mit digitalen Assistenzsystemen (Acive-Assisted-Living, abgekürzt AAL).
Das Gutachten hatte sich exemplarisch mit sechs AAL-Produkten im Hinblick auf ihre Erstattungsfähigkeit befasst: Wendebett, Ortungssystem mit integrierten Notruf, Sturzerkennungssystem, Abschaltesystem für Haushaltsgeräte, Reminder für die Nahrungs- und Getränkeaufnahme sowie eine digitale Anwendung zur Verbesserung körperlicher und kognitiver Fähigkeiten.
Das Ergebnis: Aus Sicht der Experten wären alle untersuchten Technologien erstattungsfähig, da sie einen pflegenden Nutzen für Pflegebedürftige und Pflegende erfüllen. So entlasten sie beispielsweise pflegende Angehörige, indem sie die Versorgung vereinfachen.
Beispiel Wendebett: Es erleichtert das Umlagern und Aufrichten des Pflegebedürftigen. Ein Beispiel für eine digitale Anwendung zur Verbesserung körperlicher und kognitiver Fähigkeiten ist etwa die „Memore-Box“, eine Konsole mit gesundheitsfördernden Videospielen für Senioren, um das dreidimensionale Bewegungsempfinden zu trainieren (Sturzprophylaxe).
Als gesetzliche Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit eines Hilfsmittels gelten entweder die Sicherung des Erfolgs einer Krankenbehandlung, die Vorbeugung einer drohenden Behinderung oder ein Behinderungsausgleich, erläuterte der Medizinrechtsexperte Dierks. Diese Anforderungen können die digitalen Assistenzsysteme erfüllen.
Das Sozialgesetzbuch lege darüber hinaus aber fest, dass die Hilfsmittel nur dann von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden dürften, „wenn sie nicht zugleich auch Gegenstände des täglichen Lebens sind“. Daran scheitern ihm zufolge fast alle der digitalen Assistenzsysteme, sodass die Erstattungsfähigkeit nahe Null liegt. Gleiches gilt für die Pflegehilfsmittel der Pflegekassen.
Forderungen des vzbv
- Die Digitalisierung in der häuslichen Pflege muss so ausgestaltet werden, dass die Pflegebedürftigen möglichst lange und selbstbestimmt zu Hause leben können.
- Wenn pflegeunterstützende digitale Assistenzsysteme den Umzug in ein Pflegeheim hinauszögern oder verhindern können, ist das eine deutliche finanzielle Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.
- Die Pflegeversicherung muss die Kosten für digitale Assistenzsysteme bei einem pflegerischen Nutzennachweis übernehmen.
- Die gesetzlichen Regelungen im Sozialgesetzbuch XI müssen angepasst werden, da sie derzeit nicht ausreichen, um AAL-Systeme als Pflegehilfsmittel in die Regelversorgung zu integrieren.
Das stehe aber im Widerspruch zu der Aufgabe der Kranken- und Pflegeversicherung, Pflegebedürftige mit Leistungen zu versorgen, mit denen sie ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben in Würde führen könnten, erläuterte Gutachter Dierks.
Daher müssten die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, indem ein Erstattungsanspruch für AAL-Produkte im Rahmen des Pflegehilfsmittelanspruchs nach § 40 Sozialgesetzbuch XI geschaffen werde, empfahl der Arzt und Rechtsanwalt. Das erfordere eine gesetzliche Definition von AAL sowie zwingend den Nachweis eines messbaren pflegerischen Nutzens.
„Indem die AAL-Systeme ihren Nutzen für die Pflegeversicherung nachweisen müssen, wird sichergestellt, dass die Pflegeversicherung nicht die Kosten für bloße Lifestyle- und Smart-Home-Technologien tragen muss“, erläuterte Dierks. Entscheidend sei stets, ob ein Produkt im Einzelfall einen pflegerischen Nutzen für den Pflegebedürftigen oder die Pflegekraft habe.
Wenn etwa mit digitalen Warnsystemen die Einnahme von Medikamenten oder Mahlzeiten sichergestellt werde, sodass ein Aufenthalt im Pflegeheim vermieden werden kann, dann sollte das auch erstattet werden, meinte er.
Die Tatsache, dass bestimmte Produkte im Einzelfall auch von gesunden Versicherten als Smart-Home-Technologie genutzt werden, sollte daher einer Erstattungsfähigkeit nicht im Wege stehen.
„Pflegebedürftige gewinnen mit diesen High-Tech-Systemen mehr Lebensqualität und entlasten die Krankenkassen. Das sollte es uns wert sein. So wie ABS-Systeme seit langem serienmäßig sind, sollten digitale Gesundheitsassistenten zur Regelversorgung zählen“, so Dierks.
Pflegebedürftige werden außerdem finanziell entlastet, wenn sie länger in den eigenen vier Wänden verbleiben können, denn stationäre Pflege und Betreuung sind in der Regel deutlich kostenintensiver.
„Diese Chance gilt es zu nutzen“, betonte Müller. Schließlich würde ein Erstattungsanspruch auch dem Willen des Gesetzgebers nach § 3 SGB XI entsprechen, häusliche Pflege zu fördern, die Vorrang vor stationärer und teilstationärer Pflege hat.
Erste Reaktion aus der Politik
Aus Sicht der Sprecherin für Gesundheitspolitik der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, können AAL-Systeme einen echten Mehrwert bringen und ein würdiges Altern zu Hause ermöglichen.
„Wenn die Systeme einen Nutzen nachweisen und Datensicherheit und Datenschutz gewährleisten, ist es nur konsequent, wenn sie auch von den Kranken- und Pflegeversicherungen übernommen werden können“, kommentierte sie das Gutachten des vzbv zu digitalen Pflegehelfern als Kassenleistung. © KBr/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema


Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.