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Politik

Digitalisierung in der Pflege: „Exklusion muss vermieden werden“

Dienstag, 18. Februar 2020

/maxsim, stock.adobe.com

Berlin – Die Digitalisierung wird das Leben im Alter ebenso wie den Alltag in der Pflege verändern. Stärker als in anderen Bereichen wirft der Einsatz digitaler Technologien, etwa auch von künstlicher Intelligenz (KI) oder Robotik, jedoch ethische Fragen auf.

Das wurde heute bei der Fachtagung „The Future of Care – Menschliche Pflege in der digitalen Welt“ der Bundestagsfraktion der Grünen in Berlin deutlich. Die Pflege müsse insgesamt in Gesellschaft und Politik eine stärkere Stimme bekommen, forderte die Bun­desvorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, MdB.

„Das Thema kommt auf uns alle zu.“ Es gehe dabei nicht nur um das Endstadium von Pfle­ge, sondern darum, „wie man, wenn man älter wird, seinen Alltag mit digitalen Mitteln gestalten kann“.

Wie weit soll die Unterstützung reichen?

Digitalisierung lasse sich einsetzen, um wieder mehr Menschlichkeit in die Pflege einzu­bringen – wenn beispielsweise kleine Dinge, für die eine Pflegekraft überqualifiziert sei, etwa Medikamente einzusortieren oder den Fußboden zu putzen, von technischen Lösun­gen übernommen werden könnten, sodass das Pflegepersonal entlastet werde und mehr Zeit für zwischenmenschliche Kommunikation bleibe, erläuterte die Politikerin.

Die Frage des Technologieeinsatzes betreffe jedoch alle Bereiche des Lebens und werfe viele Fragen auf, so Baerbock. Dazu zählt die Frage, wie weit Technologie die Pflege un­ter­stützen soll und wo möglicherweise eine Grenze liegt.

Auch die Frage der Arbeits­zeitbelastung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind Themen, die ihr zufolge zu diskutieren sind. Es sei Aufgabe der Politik, über rechtliche Rahmengesetzgebung, finan­zielle Anreize und Modellprojekte diesen Bereich zu gestal­ten.

Ausgangspunkt jeglicher Überlegungen sei, dass der Mensch in seiner Würde und Freiheit hierbei im Mittelpunkt stehe, betonte die Politikerin. Dabei könnten die Perspektiven auf das Thema digitale Pflege sehr unterschiedlich sein.

So werde die Frage der Infrastruktur oder des Fachkräftemangels auf dem Land eine an­de­re Bedeutung haben als in einer städtischen Region. Auch müsse im Hinblick auf die Digitalisierung gefragt werden, wer sich digitale Produkte leisten könne oder wer davon ausgeschlossen sei. Zu bedenken sei zudem stets, dass die Digitalisierung einen großen Ressourcenverbrauch mit sich bringe.

Drei Anforderungen

Um die Chancen der Digitalisierung für ältere und pflegebedürftige Menschen zu nutzen und die Risiken zu minimieren, sind aus Sicht der Grünen drei Punkte wesentlich: Als ers­tes ist eine Strategie zur Digitalisierung im Gesundheits- und Pflegewesen notwendig, die sich an konkreten Zielen orientiert und mit klaren Maßnahmen, Zeitplänen und Verant­wortlichkeiten unterlegt werden muss.

Bund und Länder müssten zudem einen Digitalpakt für die Digitalisierung in Kranken­häu­sern und Pflegeeinrichtungen auflegen, forderte die Politikerin. Baerbock verwies in die­sem Kontext darauf, dass der Investitionsbedarf in Krankenhäusern auf mindestens zwei Milliarden Euro jährlich geschätzt wird. Als Drittes verlangen die Grünen einen Innova­ti­ons­fonds für Pflege, um digitale Innovationen anschieben zu können.

Nicht ersetzend, sondern komplementär

„Wir gehen von der zentralen These aus, dass Digitalisierung Pflege in ihren fachlichen und ethischen Standards in besonderer Weise fördern kann“, betonte Andreas Kruse, Di­rek­tor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, Vorsitzender der Achten Altenberichtskommission und Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Die Einführung digitaler Robotertechnologie sei indes nicht geeignet, zentrale Aufgaben der Pflege zu ersetzen. „Digitale Technologie wird Pflege nicht substituieren können, sondern muss immer komplementär gedacht werden“, sagte Kruse. Digitalisierung auf der einen Seite und Pflege auf der anderen Seite – das sei eine gute Mischung. Es gehe da­rum, über die Zukunft der Pflege nachzudenken.

Die Altenberichtskommission, die ihre bereits an die Bundesregierung ausgehändigte Stellungnahme im März veröffentlichen wird, hat darin Kruse zufolge beispielsweise auch untersucht, inwiefern Robotertechnologie zu einer guten Pflege beitragen kann.

Dabei sei man immer auch mit ethischen Fragen konfrontiert, etwa mit der Frage der Wür­de und der Freiheit. Ebenso müsse es dabei auch um das Patientenwohl, die Selbst­be­stimmung, die Achtung der Intimität und die Achtung des Bedürfnisses nach Beziehun­gen gehen, unterstrich der Ethiker.

Unter Rekurs auf die Philosophin Hannah Arendt („Vita Activa“) verdeutlichte Kruse, dass die Technologie eine Chance sein kann, solange sie das Handeln des Menschen im öffent­lichen Raum nicht einengt. Entscheidend sei, im Auge zu behalten, inwiefern Technik da­zu beitragen könne, dass Menschen soziale und kulturelle Teilhabe verwirk­lichen können, selbst wenn sie etwa in ihrer Mobilität beeinträchtig oder an einer Demenz erkrankt sind.

Unter Bezugnahme auf Hans Jonas („Das Prinzip Verantwortung“) führte Kruse zudem aus, dass die Einführung neuer Technologie in der Medizin und Pflege nur dann eine große Chance darstellt, wenn sie von grundlegenden ethischen Reflexionen begleitet ist.

Jonas zufolge bemesse sich der Wert einer Technologie vor allem daran, inwiefern der verletzlichste, schwächste Mensch davon profitieren könne und dass sichergestellt sei, dass dieser von der Entwicklung der Technologie nicht ausgenommen sei. Das Leitbild: „Jegliche Form von Exklusion und Segregation muss vermieden werden“, betonte Kruse.

Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung wich­tig: Auf der einen Seite wird Kruse zufolge Robotertechnologie entwickelt, die eine hohe Assistenz- und soziale Begleitungsfunktion verwirklichen kann beziehungsweise die sen­sorische und aktorische Kompetenzen hat, etwa wenn eine Gangunsicherheit erkannt wird. Auf der anderen Seite gibt es viele ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen, die grundlegende Formen der Kommunikationstechnologie noch gar nicht besitzen.

Vermeidung der digitalen Spaltung

Der Bericht der Altenberichtskommission fordert laut Kruse zudem nachdrücklich, dass soziale Ungleichheit durch die Einführung oder Weiterentwicklung von digitaler Techno­lo­gie nicht vertieft werden darf.

„Die digitale Spaltung muss unbedingt vermieden werden“, betonte er. Bei der Entwick­lung digitaler Produkte müsse es zuvörderst immer auch um die Frage gehen, inwiefern jeder Haushalt mit grundlegender technologischer Assistenz beziehungsweise mit infor­mationstechnologischen Systemen ausgestattet werden könne.

„Ein Internetanschluss, der Zugang zu öffentlichen Plattformen, muss etwas wie ein Grundrecht des Individuums sein. Und wenn das Individuum das nicht selbst finanzieren kann, dann sind die staatlichen, sozialen Systeme gefordert, eine derartige Finanzierung sicherzustellen“, so der Experte.

Eine fachlich und ethisch verantwortungsvolle Technologieentwicklung kann ihm zufolge dazu beitragen, Menschen in gesundheitlichen Grenzsituationen zu unterstützen und sie in die Lage zu versetzen, dass sie ihre Kriterien eines guten Lebens, soweit das möglich ist, verwirklichen können.

Beispiele sind etwa Parkinson-Patienten, die über Tiefenhirnstimulation befähigt werden, ihre Motorik zu kontrollieren, oder Patienten mit amyotropher Lateralsklerose, die mittels einer Elektrodenhaube neuromuskuläre beziehungsweise motorische Systeme aktivieren können.

Wenn ältere Menschen gut in die Nutzung neuer Technologie eingeführt werden, und wenn es gelingt, die Technologie gut in ihre Lebenswelt zu integrieren und an die Le­bens­realität anzupassen, wird sie auch genutzt, ist Kruse überzeugt.

Im Übrigen gelte es, Technologieforschung und Lebensqualitätsforschung „mehr mitein­an­der zu verquicken“ und durch Interventionsforschung zu erweitern, um etwa zu unter­suchen, wie Technologien an die Nutzer gebracht werden können. Auch der Verbrau­cher­schutz sei in diesem Kontext zu verbessern.

Die Ärztin und Digital-Health-Strategin Shari Langemak ging auf bereits vorhandene digitale Innovationen und deren Auswirkungen in den vier Bereichen Assisted Living, Kommunikation, Frühdiagnose und Prävention ein.

Aufklären über Risiken

So können beispielsweise der Hausnotruf, gekoppelt mit automatischer Sturz-Detektion, ebenso wie Sensoren zur kompletten Überwachung im Haushalt sinnvolle technologische Entwicklungen sein, bei denen laut Langemak dennoch gefragt werden kann, wie viel Privatsphäre der Nutzer auf Kosten seiner Unabhängigkeit haben will.

Und: „Wie sind Senioren oder auch Menschen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten darüber aufzuklären, welche Risiken sie eingehen, wenn sie solche Systeme installieren lassen?“

KI-Systeme und Robotik können zunehmend als Ersatz für die zwischenmenschliche Kommunikation genutzt werden. So werden beispielsweise Chatbots in die Senioren­ver­sorgung integriert. Hier sei zu fragen, wie mittels digitaler Technologie die Chancen für mehr Teilhabe genutzt werden können, ohne dabei soziale Interaktion zu vermeiden, so die Expertin.

Patientenfokussierte Apps und Sensoren ermöglichen inzwischen eine Frühdiagnose von zu Hause, Beispiel EKG per Smartphone. Frühdiagnosen und Risikoanalysen können aber auch unheilbare und schwer behandelbare Erkrankungen miteinschließen, gab Langemak zu bedenken, etwa wenn das Smartphone zur Diagnose neurologischer Erkrankungen ver­wendet werde.

Tracking-Apps können zudem im Rahmen von Prävention einen gesünderen Lebensstil unterstützen und Gesundheitskosten senken – sie können aber auch im Rahmen von Bonussystemen dazu genutzt werden und möglicherweise einen gesünderen Lebensstil dadurch zunehmend erzwingen. © KBr/aerzteblatt.de

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