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Politik

Gekipptes Sterbehilfeverbot löst heftige Reaktionen aus

Mittwoch, 26. Februar 2020

/pattilabelle, stockadobecom

Berlin – Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe, dass der 2015 eingeführte Strafrechtsparagraf 217 zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttö­tung gegen das Grundgesetz verstoße, weil er in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Sterbewilligen eingreife, hat sehr unterschiedliche emotionale Reaktionen hervorgerufen.

Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht zwar dem Selbstbestimmungsrecht am Ende des Lebens wei­ten Raum zugesprochen habe, es aber auch die Notwendigkeit für eine gesetzgeberische Regulierung der Beihilfe zur Selbsttötung sehe, da von einem unregulierten Angebot ge­schäftsmäßiger Suizidhilfe Gefahren für die Selbstbestimmung ausgehen könnten.

Die Richter hätten außerdem ausgeführt, dass dem Gesetzgeber zum Schutz dieser Selbst­bestimmung über das eigene Leben in Bezug auf organisierte Suizidhilfe ein brei­tes Spektrum an Möglichkeiten von Einschränkungen offenstehe, die ausdrücklich auch im Strafrecht verankert oder durch strafrechtliche Sanktionierung von Verstößen abge­sichert werden könnten.

„Das heutige Urteil ist deshalb als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, diese Mög­lich­keiten auszuloten und rechtssicher auszugestalten“, betonte Reinhardt. „Die Gesell­schaft als Ganzes muss Mittel und Wege finden, die verhindern, dass die organisierte Beihilfe zur Selbsttötung zu einer Normalisierung des Suizids führt.“ Soweit das Gericht auf die Konsistenz des ärztlichen Berufsrechts abhebe, werde demnächst auch eine in­ner­ärztliche Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts erforderlich sein, erklärte Reinhardt.

Keine Pflicht für Ärzte zur Mitwirkung an der Selbststötung

Positiv bewertet der BÄK-Präsident, dass auch künftig kein Arzt zur Mitwirkung an einer Selbsttötung verpflichtet werden kann. „Die Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten ist es, un­ter Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zu ihrem Tod beizustehen“, sagte er. „Die Beihilfe zum Suizid gehört unverändert grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten.“

Bereits bei der Urteilverkündung am heutigen Vormittag hatte BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle betont, dass Ärzte bislang nur eine geringe Bereitschaft zeigten, Suizidhilfe zu leisten. „Sie sind hierzu auch nicht verpflichtet“, erklärte er. „Aus dem Recht auf selbst­be­stimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab.“

Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg, forderte heute den Gesetzgeber auf, für eine Lösung zu sorgen, die Betroffenen und Ärzten Rechtssicherheit in ihrem Han­deln schafft. Die kommerziell orientierte Form der Sterbehilfe sollte dabei seiner Ansicht nach – sowie im Konsens mit allen anderen Landesärztekammern und der BÄK - auch weiterhin rechtssicher unterbunden werden.

„Es kann und darf keine Ärztin und kein Arzt dazu gezwungen werden, Beihilfe zum Sui­zid zu leisten“, sagte er. Darin sei sich die Ärzteschaft einig. „Dennoch bleibt der Themen­komplex Sterbewunsch, Sterbehilfe, assistierter Suizid zurecht Gegenstand einer gesamt­ge­sellschaftlichen Debatte, die geführt werden muss, und an der wir uns als Ärzteschaft gerne beteiligen“, so Emami.

Das Urteil setze ein klares Statement für die Stärkung der individuellen Souveränität der Bürger in Deutschland und es schaffe Klarheit über den Entscheidungsspiel­raum von Ärzten, erklärte Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Sie dürften selbst entscheiden, ob sie Menschen in dieser Hinsicht unterstützen wollen oder nicht.

Das Urteil bekräftige, dass sich aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben kein An­spruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ableiten lasse. „Deshalb werden keine Ärztinnen und Ärzte zu einer Förderung der Selbsttötung gezwungen. Das ist zu begrüßen“, sagte Herrmann.

Auch die Ärztekammer Westfalen-Lippe (ÄKWL) sieht in dem Urteil eine Bestätigung der Position ihrer Ärzteschaft. „Ärzte sind keine Sterbehelfer, sondern Sterbebegleiter für ihre schwerstkranken Patienten“, verdeutlichte Kammerpräsident Hans-Albert Gehle. Die Be­gleitung sterbenskranker Menschen sei eine urärztliche Aufgabe. Die Umsetzung des in­di­viduellen Rechts auf Selbsttötung sei dagegen keine Maxime für das ärztliche Handeln.

„Der suizidalen Begehrlichkeit eines lebensmüden Menschen nachzukommen, also das Töten auf Verlangen umzusetzen, ist für den Arzt ethisch und gesetzlich nicht vertretbar“, betonte er und verwies in diesem Zusammenhang auf die Berufsordnung der ÄKWL, wo­nach Ärzte Sterbenden unter Wahrung und Achtung von deren Willen und Würde beizu­stehen haben: „Ärzte sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“

Heidrun Gitter, Präsidentin der Ärztekammer Bremen, begrüßte heute die Klarstellung, dass nie­mand – auch keine Ärzte – zu einer solchen Hilfestellung gezwungen werden können. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen, warnte vor einer Normalisierung der Beihilfe zum Suizid. Das Urteil sei als Auftrag an den Gesetzgeber zu verstehen, sowohl für die Betroffenen als auch für Ärzte Rechtssicherheit zu schaffen. Kommerzielle Sterbehilfe müsse rechtssicher unterbinden werden.

Mit dem Urteil hätten die Richter die gesellschaftliche Diskussion über Sterbehilfe neu eröffnet, sagte der Präsident der Landesärztekammer Brandenburg, Frank-Ullrich Schulz. Das BVerfG habe dem Selbstbestimmungsrecht auch über den eigenen Tod zwar weiten Raum eingeräumt. Es sehe aber den Gesetzgeber weiterhin in der Pflicht, für die Beihilfe zur Selbsttötung klare Regelungen und möglicherweise auch Einschränkungen festzule­gen.

Gefährlicher Spielraum

Der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) zufolge eröffnet das Urteil einen gefährlichen Spielraum: „Die Äußerung eines Sterbewunsches als konkrete Handlungs­auf­for­derung zu verstehen, ist viel zu kurz gegriffen“, warnte Lukas Radbruch, Präsident der DGP. Vielmehr drücke dieser oftmals das Anliegen aus, über das Leiden unter einer unerträglichen Situation und die persönliche Hoffnungslosigkeit zu sprechen.

Radbruch warnte vor „freier Bahn für Sterbehilfeorganisationen“. Statt diesen mehr Spiel­raum zu geben, brauche Deutschland eine breite gesellschaftliche Diskussion über Rah­men­bedingungen am Lebensende in Pflegeheimen, Krankenhäusern und im häuslichen Umfeld.

„Viele Menschen wissen gar nicht, welche Möglichkeiten sie haben, zum Beispiel mit dem Abbruch oder dem Verzicht von lebenserhaltenden Behandlungsmaßnahmen“, sagte Rad­bruch. Selbst eine künstliche Beatmung müsse nach geltendem Recht beendet werden, wenn der betroffene Patient dies wünsche. „Wir brauchen deshalb mehr Informationen über die bestehenden Möglichkeiten, keine offene Tür für geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid.“

Heftige Kritik übte auch die Deutsche PalliativStiftung. Karlsruhe setze die Selbstbestim­mung der ohnehin Starken über den Schutz der Schwächsten, erklärte der Vorstandsvor­sit­zende Thomas Sitte. „Jetzt wird die Erleichterung der Selbsttötung für Kranke und Lebensmüde zur normalen Dienstleistung.“

Wer Sterbehilfe erlaube, mache über kurz oder lang Sterben zur Pflicht – „erst recht in einer so ökonomisierten Gesellschaft wie der unseren“, befürchtet der Fuldaer Palliativ­mediziner. Erfahrungen aus allen anderen Staaten zeigten: Angebot schafft Nachfrage. „Die Palliativ-Stiftung wird sich auch gegen den Mainstream weiter dafür einsetzen, dass irgendwann jeder wissen kann: Leiden lindern ist ohne Töten möglich“, betonte Sitte.

DHPV befürchtet Entsolidarisierung

Mit Bestürzung und Bedauern hat der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aufgenommen. „Das Urteil kann auf lange Sicht zu einer Entsolidarisierung mit schwerstkranken und sterbenden Men­schen in unserer Gesellschaft führen“, befürchtet Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des DHPV.

Das Urteil verwundere ihn ferner, da die Richter die Gefahren einer Freigabe der ge­schäfts­mäßigen Suizidbeihilfe nicht infrage stellten. Hierzu zähle, dass geschäftsmäßige Suizidbeihilfe zu einer gesellschaftlichen Normalisierung der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne.

Im Ergebnis stelle das Bundesverfassungsgericht aber sein rechtliches Verständnis von Autonomie, Selbstbestimmung und Würde über diese Gefahren. „Besonders schwer wiegt beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Ansicht, dass Suizidbeihilfe nicht nur bei schwerer Krankheit das Recht jedes und jeder Einzelnen sei, sondern in jeder Phase menschlichen Lebens bestehe“, so Hardinghaus.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Ner­ven­heilkunde (DGPPN) sieht das Urteil in seiner Konsequenz für Ärzte und Psychiater kritisch. Insbesondere Psychiatern drohe in Fragen der Suizidbeihilfe aus Sicht der Fach­gesellschaft, eine neue Rolle zuzukommen. Als Gutachter würden sie absehbar darüber entscheiden müssen, inwieweit die Selbstbestimmungsfähigkeit und der freie, uneinge­schränkte Wille eines Menschen in Hinblick auf seinen Sterbewunsch gegeben ist. Diesen Rollenwechsel hält die DGPPN für inakzeptabel.

Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hat sich offen für Beihilfe zum Suizid durch Ärzte gezeigt. „Grundsätzlich wollen die Ärzte Leben erhalten. Es ist aber auch nicht ärztliche Aufgaben, Leben um jeden Preis endlos zu verlängern“, sagte Gassen der Rheinischen Post.

Möglicherweise könne man in diesem Bereich auch nicht jedes Detail gesetzlich regeln. „Es muss Menschen möglich sein, in Würde zu sterben, wenn sie das wollen.“ Der Grad der Hilfeleistung dabei liege letztendlich auch im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Gassen betonte: „Der Patientenwille, der in Verfügungen zum Ausdruck gebracht wird, muss auch gelten.“

Erleichterung bei Klägern

Mit großer Erleichterung aufgenommen wurde das Urteil indes von denjenigen Ärzten, die gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe geklagt hatten. „Es ist ein gutes Urteil für Menschen in verzweifelten Situationen, die wir jetzt wieder ganz normal nach unserem Gewissen behandeln dürfen“, sagte der Palliativmediziner Matthias Thöns. Er könne nun seinen Patienten wieder ganz normal stark wirksame Schmerzmittel aufschrei­ben, ohne Angst vor dem Strafrecht haben zu müssen.

„Und ich kann Patienten in verzweifelten und seltenen Situationen einen Ausweg zeigen und muss sie nicht auf brutale Suizidmethoden verweisen.“ Auch die Ärztin Susanne Vo­gel aus Neumarkt in der Oberpfalz begrüßte das Urteil. Das Wichtigste sei, dass man als Arzt nicht mehr vom Strafgesetz bedroht werde. Dass das Urteil zusätzlich empfehle, auch das ärztliche Berufsrecht und das Betäubungsmittelgesetz zu überarbeiten, finde sie sehr beruhigend.

Mit Freude nahm der Vorsitzende des Vereins Sterbehilfe Deutschland und frühere Ham­burger Justizsenator Roger Kusch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis. Nach so langer Wartezeit sei es „ein wunderbarer Tag“ für den Verein, die Vereinsmitglie­der und alle interessierten Bürger, die aufatmen könnten, dass man wieder in einem sä­ku­laren Rechtsstaat gelandet sei, sagte er. Kusch kündigte an, dass sein Verein zu der Praxis zurückkehren werde, die bis zur Einführung des jetzt für nichtig erklärten Paragra­fen 217 des Strafgesetzbuches möglich gewesen sei.

Reaktionen aus der Politik

Auch von Seiten der Politik kommen unterschiedliche Reaktionen auf das Urteil. Relative Klarheit herrscht aber darüber, dass nun gesetzliche Neuregelungen notwendig sind. So will die Union nach dem Urteil einen neuen Anlauf für eine Regulierung der Sterbehilfe unternehmen. Suizidbeihilfe dürfe nicht zur Normalität werden, sagte die gesundheits­politi­sche Sprecherin der Union, Karin Maag (CDU).

Das bedeutet im gesundheitspolitischen Bereich vor allem, dass man die Angebote einer guten palliativen Begleitung noch weiter ausbauen müsse. Als positiv wertete sie das Ur­teil mit Blick auf den Streit, ob das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im Einzelfall den Zugang zu Medikamenten für eine Selbsttötung ermöglichen müsse. „Wichtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht jedenfalls klargestellt hat, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf", betonte Maag. Damit seien auch vermeint­lich staatliche Pflichten vom Tisch.

Der frühere Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der der Entscheidungsver­kün­dung beiwohnte, bedauerte das Urteil. Es könne zu einer Normalisierung der Selbst­tö­tung als Behandlungsoption den Weg zu bereiten, sagte er. Das Bundesverfassungs­ge­richt habe ausdrücklich ein Schutzanliegen des Gesetzgebers anerkannt. Von einer unge­re­gelten Zulässigkeit organisierter Suizidassistenz könnten jedoch Gefahren ausgehen. „Das wird man genau zu prüfen haben.“

Erschüttert zeigte sich Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Grünen im Bundestag. „Das Urteil ist ein Dammbruch“, sagte sie. Das Gesetz von 2015 sei eine Reaktion auf die zunehmende Tätigkeit von sogenannten Sterbehilfevereinen gewe­sen und auf die Sorge, dass Sterbehilfe als normalisierte Option neben einer dem Men­schen zugewandten palliativen Versorgung steht.

„Menschen sollen sich nicht wegen der Sorge, anderen zur Last zu fallen, oder gar aus finanzieller Not zum Suizid gedrängt fühlen“, erklärte sie. Beides werde aber als Motiv genannt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass der Erwartungsdruck gerade auf Menschen in vulnerablen Situationen, diesen vermeintlichen ,Ausweg' zu nehmen, steigt.“

Auch die AfD bedauerte das Urteil. Es habe sie „zutiefst erschüttert“, erklärte die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch. Die Entscheidung schaffe „eine Kultur des Todes“. Es sei ein „ethischer Tabubruch, der schlimme Konsequenzen haben werde“.

Die SPD sieht Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der Pflicht. Er müsse sei­nen Widerstand gegen die Abgabe der dazu notwendigen Medikamente aufgeben, sagte SPD-Fraktionsvize Bärbel Baas. „Die Neuregelung der Sterbehilfe hat zu einer Verunsiche­rung bei Ärztinnen und Ärzten geführt“, sagte sie. Ärzte bräuchten aber Rechtssicherheit. „Ich wünsche mir klare Regeln, wann insbesondere ärztliche Begleitung erlaubt und wann gewerbliche Angebote ausgeschlossen sind.“ Das heutige Urteil gebe dazu den Auftrag.

Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast begrüßte das Urteil ebenfalls und sprach von einem „sehr guten Tag für die Freiheit des Einzelnen“. Es werde klargestellt, dass die autonome Selbstbestimmung und Würde des Einzelnen auch beinhalte, über das Ende des eigenen Lebens jederzeit frei zu entscheiden. Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach begrüßte das Urteil per Twitter.

Die FDP fordert Konsequenzen und plädiert für zügige Reformen. Mit der Entschei­dung sei der Weg frei für ein liberales Sterbehilfegesetz, das den Betroffenen und Ärzten end­lich Rechtssicherheit verschaffe, sagte der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae. Spahn dürfe das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht weiter ig­norieren und Schwerkranken nicht länger den Zugang zu Betäubungsmitteln zur Selbst­tötung verweigern.

Für die FDP-Bundestagsabgeordnete Katrin Helling-Plahr geht die Entscheidung des Bun­desverfassungsgerichts nicht weit genug. „Wir brauchen ein Sterbehilfegesetz mit klaren Regeln, unter welchen Voraussetzungen Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch genommen oder geleistet werden darf", sagte sie und kündigte an, mit anderen Bundestagsabgeord­neten einen neuen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zu entwickeln.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will nach dem Urteil des über mögliche Neurege­lungen bei der Sterbehilfe beraten. Das Urteil gebe dem Gesetzgeber ausdrücklich Spiel­raum zu Regulierungen und Konkretisierungen, sagte der CDU-Politiker am späten Abend in Berlin. Er wolle nun mit allen Beteiligten sprechen, um eine verfassungsgerechte Lö­sung zu finden.

Als Beispiele nannte er Beratungspflichten und Wartefristen. Zudem gebe es je nach Le­benssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Sterbewillens. Spahn betonte, dass das Verfassungsgericht ein um­fassendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben anerkenne. Daran müssten sich mögliche Neuregelungen orientieren.

Er finde es aber genauso wichtig, dass sich daraus nicht eine Gewöhnung und letztlich eine gesellschaftlich erwartete Pflicht zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe entwickeln. Zudem leite sich daraus kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. „Für mein Verständnis gilt das auch für Behörden.“

Spahn verwies darauf, dass damit nun nicht darüber geurteilt worden sei, ob das Bundes­institut für Arzneimittel den Kauf von Medikamenten zur Selbsttötung erlauben müsse. Dazu laufe ein separates Verfahren. Die Situation der Betroffenen und ihrer Angehörigen gelte es im Auge zu haben. Gleichzeitig wäre es falsch, wenn Behörden über Leben und Tod entscheiden müssten.

Kirchen üben Kritik

Die beiden großen Kirchen kritisierten das Urteil scharf. Es stelle einen Einschnitt in die Bejahung und einer auf Förderung des Lebens ausgerichteten Kultur dar, erklärten die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Bonn und Hannover. Die Kirchen wollten sich weiter dafür einsetzen, dass „organisierte Ange­bote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden“.

Auch der Deutsche Caritasverband bedauerte das Urteil. „Sterbenskranke Menschen brauchen eine Begleitung, die ihre Ängste und Nöte und die ihrer Angehörigen ernst nimmt. Sie müssen alle mögliche Unterstützung erfahren, um würdevoll sterben zu können“, erklärte Präsident Peter Neher. Sterbehilfe verstoße gegen die Menschwürde und gegen das christliche Menschenbild.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz befürchtet gar einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft. „Jetzt kann die Beihilfe zum Suizid jederzeit von jedermann angeboten werden. Damit wird die Selbsttötung zur selbstverständlichen Therapieoption“, kritisierte Vorstand Eugen Brysch. „Das Urteil mag nach Selbstbestimmung klingen, geht aber an der Lebenswirklichkeit vorbei.“ © ER/dpa/afp/kna/may/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #645401
doc_korbinian
am Donnerstag, 5. März 2020, 19:22

Grundursachen

Vielen Sterbenskranken geht es aber darum: "es jederzeit beenden zu können", wenn der Zeitpunkt gekommen ist, und die würdevolle Selbstständigkeit bedroht ist. Kommen dann nicht rechtzeitig gute Hilfsangebote, die den Sterbewilligen davon abhalten, wird er lieber die Tabletten einnehmen, oder sich anderweitig das Leben nehmen, sehr zum Leidwesen der Leute, die ihn so finden müssen. Und diese Gefühl, es selbst in der Hand zu haben, kann noch mal ein Stück mehr Lebensqualität bedeuten, als jeden Tag Angst davor haben zu  müssen, das man nochmal ein Stück würdeloses dahinsiechen vor sich hat.

Ich empfehle hier:- Wartezeiten (Bedenkzeit) einhalten und Beratungsgespräche müssen erfolgen- es darf keine akut depressive Erkrankung vorliegen, die noch behandelbar ist. Es muß eine unheilbare Erkrankung, oder ein stark fortgeschrittenes Alter mit niedriger Lebensqualität vorliegen, die von mehreren unabhängigen Ärzten bestätigt wird.- profitorientierte Sterbeeinrichtungen mit Mitgliedsbeiträgen würde ich nicht erlauben, denn das würde arme Menschen benachteiligen.- Ärzte können jederzeit aus ethischen Gründen begleitenden Suizid verweigern.
Solange es Ärzte gibt, die ihrer Pflicht eines schmerzfreien Sterbens nur ungenügend nachkommen, oder ohne Sinn und Verstand weiter lebenserhaltend therapieren, obwohl der Sterbeprozess nur aufgehalten wird, und sich somit ihrer Verantwortung entziehen, wirklich im Sinne des Patienten zu handeln, der darf sich nicht wundern, daß Patienten und Sterbewillige andere Wege suchen, diesem langwierigen Sterbeprozeß aus dem Weg gehen zu wollen.
Avatar #110206
kairoprax
am Donnerstag, 27. Februar 2020, 08:04

" von einem unregulierten Angebot ..."

Sehr geehrter Herr Reinhardt,
von einem ungeregelten Verbot der Sterbehilfe, so wie seit Jahren gegeben, geht wesentlich nmehr Unheil aus.
Als Vetreter aller Ärztinnen und Ärzte sollten Sie endlich die Augen öffnen und sehen, daß wahrscheinlich keiner von uns nicht in einer Situation war, daß man von ihr oder von ihm medizinische Hilfe beim Suizid erbeten hat.
Es war bis gestern unerträglich, daß man unter Mißachtung der Rechtslage und mit dem berühmten einen Bein im Gefängnis oder bedroht durch ein Berufsverbot zu handeln gezwungen war.
Das ist Realität.
Das Verfassungsgericht hat sich nicht vor dieser Realität gebeugt, auch nicht zähneknirrschend oder schulterzuckend, sondern auf dem Boden unserer Verfassung.
Ich bitte den Präsidenten der Bundesärztekammer, diesen Schritt, zurück auf den Boden der Verfassung, nachzuvollziehenn und nicht schlechtzureden.
Ihr
Karlheinz Bayer
Avatar #672734
isnydoc
am Mittwoch, 26. Februar 2020, 21:24

Entscheidungsgremium Bundestag

Das "Gremium" Bundestag ist doch vorhanden, die müssen nun Dinge regeln, die durch das "Kassieren" der damaligen Gesetzgebung jetzt wieder "offen" sind.
Das läuft auf Debatten ähnlich wie bei "Organspende" hinaus.
Avatar #735550
rp__bt
am Mittwoch, 26. Februar 2020, 20:41

Natürlich muß jetzt dringend ein Entscheidungsgremium über dem BVG geschaffen werden...

...denn mal eine Entscheidung zu akzeptieren, die einem nicht paßt - das geht ja gar nicht!
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