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Medizin

COVID-19: Zweifel am erhöhten Risiko für einen komplizierten Verlauf durch Antihypertensiva

Montag, 16. März 2020

/picture alliance

Berlin – Die Deutsche Hochdruckliga (DHL) warnt Patienten explizit, Antihypertensiva aus Furcht davor, diese könnten den Verlauf einer COVID-19-Infektion verschlimmern, abzusetzen. Grund für die Warnung sind aktuelle Meldungen, dass beispielsweise ACE-Hemmer zu einer Zunahme jener Liganden führen könnten, an die das neue Coronavirus Covid-19 (SARS-CoV-2) andockt.

Eine solche Vermutung hatten Wissenschaftler zunächst in einem Kommentar in Nature Reviews Cardiology geäußert. Sie erläutern, dass das angiotensin-converting-enzyme 2 (ACE2) als Membran-ständige Aminopeptidase dem neuen Virus als Rezeptor – und damit als Eintrittspforte in die Zellen – dienen könnte.

ACE2 ist vor allem in der Lunge, aber auch am Herzen, im Darm, in der Niere und in Blutgefäßen auf Zelloberflächen zu finden. ACE2 kommt ebenfalls in löslicher Form im Serum vor. Hintergrund der aktuellen Spekulationen über ein erhöhtes Risiko für eine schwerere Verlaufsform einer COVID-19-Infektion unter ACE-Hemmern, ist die Beobachtung, dass unter einer solchen Therapie mehr ACE2-Rezeptoren gebildet werden – theoretisch mithin mehr Andockstellen für das neue Virus vorhanden wären.

Ebenso erhöhen das Analgetikum Ibuprofen und Antidiabetika aus der Gruppe der Thiazolidindione (Glitazone) die Zahl ACE-Bindungsstellen, worauf Wissenschaftler aktuell im Lancet hinweisen.

Da derzeit allein in Deutschland rund 16 Millionen Patienten unter einer ACE-Hemmer-Therapie stehen, würde dies eine substantielle Gruppe von Gefährdeten darstellen.

Thomas Eschenhagen, Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bezeichnet dies in einer Stellungnahme für die Deutsche Herzstiftung als eine interessante, aber gleichwohl „steile Hypothese“. Eschenhagen gibt auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblatts zu bedenken, dass ACE2 zwar ein Rezeptor für früher entdeckte Corona-Varianten sei. Allerdings sei unklar, ob es auch der entscheidende oder einzige Rezeptor für das neue Virus sei. Stimmte dies, so würden die Infektions- und Mortalitätsraten ein Überwiegen jener Patienten zeigen, die ACE-Hemmer einnehmen. „Das müsste sich relativ leicht feststellen lassen“ so Eschenhagen.

Weitere Beobachtungen lassen Experten die These über ein erhöhtes Risiko unter ACE-Hemmern anzweifeln, wie sich beispielsweise dieser Tage in der Stellungnahme der Schweizerischen Fachgesellschaften für Kardiologie und Hypertonie nachlesen lässt. So haben im Gegenteil tierexperimentelle Daten gezeigt, dass eine SARS-CoV-Infektion zu einem Anstieg von Angiotensin II führte, wodurch die Lungenschädigung verstärkt wurde.

Absetzen und Therapiewechsel nicht gerechtfertigt

Auch die DHL betont in ihrer aktuellen Verlautbarung, dass der schützende Effekt von einer Blockade des Renin-Angiotensin-Systems bei einer schweren Lungenaffektion wie dem ARDS (acute respiratory distress syndrome) mehrfach nachgewiesen worden sei. Im Rahmen einer Lungenentzündung sei also mit protektiven Effekten zu rechnen. Ein Absetzen aufgrund der hypothetischen Annahmen sei daher nicht zu rechtfertigen.

In diesem Sinne äußerte sich aktuell ebenfalls die European Society of Hypertension (ESH). Ein Absetzen der Therapie könnte innerhalb von Tagen bis Wochen beispielsweise bei einer Herzinsuffizienz zu einer Verschlechterung bis hin zu einer erhöhten Sterblichkeit führen. Auch ein rein prophylaktischer Therapiewechsel von bisher noch gesunden Patienten sei nicht gerechtfertigt, betonen die Schweizer.

Die genannten Fachgesellschaften warnen davor, aus der Tatsache falsche Schlüsse zu ziehen, dass viele Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen und Diabetes Mellitus mit den inkriminierten Medikamenten behandelt würden. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch Diabeteserkrankungen disponierten zu einem problematischeren Verlauf einer Covid-19-Infektion. Dabei gelten die Erkrankungen als solche als Risikofaktoren, unabhängig davon, mit welchen Substanzen sie behandelt wird.

Die Forscher, die sich derzeit über dieses Thema auf ResearchGate austauschen, verweisen zudem auf die Befunde, dass Patienten mit variierenden Symptomen dennoch ähnliche intrazelluläre Virenmengen aufwiesen. Das impliziere, dass der ACE2-Rezeptorstatus auf der Zelloberfläche nicht relevant sei.

Ungeklärt ist auch, ob lösliches ACE2 gleichsam Viren abfangen und damit das Vordringen in die Zellen hindern könnte. Darauf beruht auch eine neu angedachte Therapie mit einem rekombinanten, löslichen ACE2, das Viren binden soll. Eine Pilotstudie mit 24 schwer erkrankten Patienten in China ist geplant, wie die Deutsche Apotheker Zeitung berichtet.

Widersprüchliche Beobachtungen

Des Weiteren weisen die unterschiedlichen Statements zu Sartanen darauf hin, dass es in dem Risikomodell offensichtlich noch zahlreiche Unklarheiten gibt. So halten die Autoren im Lancet fest, dass auch eine Therapie mit Sartanen die Expression von ACE2-Bindungsstellen erhöhe. Eschenhagen verweist allerdings darauf, dass die AT1-Rezeptorantagontisten ACE2 herunter zu regulieren scheinen. Und die Schweizerischen Fachgesellschaften schreiben, dass sich bei früheren Coronavirus-Infektionen die dadurch verursachten Lungenerkrankungen durch die Gabe von Sartanen besserten.

Diese ambivalenten Beobachtungen berechtigen daher keinesfalls dazu, dass in den sozialen Medien unkritisch Ängste vor bestimmten Medikamenten geschürt werden. Oder dass darüber spekuliert wird, ob die hohe Sterblichkeitsrate der COVID-Epidemie in Italien etwas mit der vergleichsweise hohen Rate an ACE-Hemmer-Therapien dort zu tun haben soll.

FakeNews über Forschungsergebnisse der Wiener Uniklinik

Eschenhagen bezeichnete dies ausdrücklich als „weit hergeholt“. Gleiches gilt für die Meldung, Ibuprofen würde die Vermehrung von COVID-19 beschleunigen. Die Universität Wien hat die schon explizit dementiert: „Achtung, bei den derzeit kursierenden WhatsApp-Text- und Sprachnachrichten rund um angebliche Forschungsergebnisse der ‚Wiener Uniklinik‘ zu einem Zusammenhang zwischen Ibuprofen und COVID-19 handelt es sich um #FakeNews, die in keinerlei Verbindung mit der #MedUniWien stehen. © mls/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #585590
Dr.Jekyll
am Sonntag, 29. März 2020, 18:38

Was genau definiert das Risiko: "Hypertonie" oder hoher Blutdruck?

Was für mich in dieser Diskussion bisher offen bleibt: Korreliert die Diagnose "arterielle Hypertonie" mit der schwer des Verlaufes oder ist es der schlecht eingestellte zu hohe Blutdruck, der das Risiko erhöht? Das ist eine entscheidende Frage. Ist es das Erste, besteht also das gleiche erhöhte Risiko bei gut und schlecht eingestelltem Blutdruck, dann fällt der Verdacht klar auf eine Medikamenteninteraktion. Trifft das Zweite zu, dann ist der Risikofaktor der zu hohe Blutdruck. Warum wird das nicht präziser dargelegt?
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