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Politik

„Viele psychische Krankheiten können durch die Pandemie forciert werden“

Dienstag, 17. März 2020

Berlin –Die Corona-Pandemie ruft nicht nur die Angst vor Ansteckung hervor. Die damit verbundenen Unsicherheiten und Befürchtungen sowie der Verlust an sozialen Kontakten aufgrund des Aufrufs zur Isolation können psychische Erkrankungen verstärken.

Gleichzeitig wollen oder dürfen viele Patienten das Haus nicht mehr verlassen, um ihre Psychotherapeutin oder ihren Psychotherapeuten aufzusuchen. Diese können in vielen Fällen keine Sprechstunde mehr anbieten, weil sie ihre Kinder betreuen müssen, da Schulen und Kitas geschlossen sind. Videosprechstunden sind zurzeit das Mittel der Wahl.

5 Fragen an Heike Winter, Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis in Offenbach, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Hessen sowie wissenschaftliche Geschäfts­führerin des Ausbildungsprogramms Psychologische Psychotherapie an der Goethe Universität Frankfurt.

DÄ: Frau Winter, können bestimmte psychische Erkrankungen aufgrund der außerordentlichen Maßnahmen, die die Eindämmung der Corona-Pandemie den Menschen abverlangt, verstärkt werden?
Heike Winter: Viele psychische Krankheiten können durch die Pandemie forciert werden. Unsicherheit und Ungewissheit verstärken Ängste - diese spielen im Hintergrund vieler psychischer Erkrankungen eine Rolle.

So sind Panikstörungen, hypochondrische Störungen und Zwangsstörungen unmittelbar mit Befürchtungen verbunden, die der Corona-Epidemie ähneln. Symptome dieser Störungsbilder sind beispielsweise die Angst, sich anzustecken und dies durch ständiges Händewaschen zu vermeiden (Zwang), die Angst unter einer bisher unentdeckten Krankheit zu leiden und sich daraufhin ständig zu beobachten (Hypochondrie) sowie die Angst vor zukünftigen Katastrophen (Panik).

Fehlende soziale Kontakte und Isolation verstärken Depressions-Tendenzen und können zu einer depressiven Episode führen.

DÄ: Viele Praxen von ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten haben meist sowieso schon lange Wartelisten und werden jetzt sicher vermehrt mit Hilfesuchenden konfrontiert.
Winter: Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind Väter und Mütter, die nun auch vor der Herausforderung stehen, die Kinderbetreuung organisieren zu müssen. Wenn das nicht klappt, stehen sie dann auch nicht für Praxiszeit zur Verfügung. Zunächst waren die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichepsycho­therapeuten auf der Liste der systemrelevanten Berufe nicht ausdrücklich erwähnt worden. Das muss sich ändern beziehungsweise klargestellt werden, weil sonst die Psychotherapieversorgung nicht aufrechterhalten werden könnte.

Besonders in dieser Krisenphase sind psychisch kranke Menschen – nicht nur wenn sie suizidgefährdet sind – auf die Stabilisierung durch psychotherapeutische Behandlungen angewiesen. Dabei ist auch zu bedenken, dass sich derzeit manche Patienten scheuen, rauszugehen und Praxen aufzusuchen.

Da wäre es sinnvoll, einen zentralen Krisendienst einzurichten, der telefonisch oder per Email zu erreichen ist - der sich darauf spezia­lisiert, Patienten mit ihren Anliegen, Ängsten und Unsicherheiten telefonisch zu beraten. Denn die Psychotherapiepraxen können in ihren telefonischen Sprechzeiten eine solche Beratung nicht leisten und abrechnen.

DÄ: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat gerade angekündigt, die Regelung, wonach Videosprechstunden zu maximal 20 Prozent einer Gebührenordnungsposition je Therapeut und Quartal entsprechend abgerechnet werden können, aufzuheben. Das begrüßen Sie sicher?
Winter: Wir sind erleichtert, dass diese Beschränkung für das zweite Quartal aufgehoben wurde. Dafür hatte sich die Psychotherapeutenkammer Hessen seit Wochen auf unter­schiedlichen Ebenen stark gemacht. Für den Monat März als letzten des Quartals werden wir noch keine Probleme bekommen, weil das Gros der Behandlungsstunden als Präsenz­therapien erfolgte. Nun ist gesichert, dass auch im zweiten Quartal keine Behandlungen abgebrochen werden müssen, weil sich Patienten noch in Quarantäne befinden oder aus anderen Gründen nicht persönlich in die Praxis kommen können.

Die Psychotherapeutenkammer Hessen fordert zudem, dass für die aktuelle Sondersitua­tion auch die Sprechstunde, das heißt der Erstkontakt mit Patienten sowie die Akut­behandlung, als Videosprechstunden angeboten werden dürfen. Zudem sollte die Möglichkeit eröffnet werden, Psychotherapien auch telefonisch durchzuführen. Patienten, die nicht über die notwendige Hardware verfügen oder keinen schnellen Internetzugang haben, können wir mit der Videosprechstunde nicht erreichen.

Wir brauchen jetzt kurzfristig Lösungen, die es ermöglichen, die dringend benötigten Psychotherapien für häufig hochbelastete Patienten fortzusetzen. Die Corona-Krise selbst bildet dabei einen zusätzlichen Stressor, der von vielen Patienten als hochbelastend erlebt wird.

DÄ: Raten Sie Psychotherapeuten noch Patienten in der eigenen Praxis zu empfangen und wenn ja, mit welchen Vorsichtsmaßnahmen?
Winter: Wir raten derzeit allen, die Videosprechstunden möglich machen können, diese Technik auch einzusetzen. Voraussetzung ist natürlich die Einwilligung der Patienten und die benötigte technische Ausstattung. Für Patienten ist die Videosprechstunde auch mit dem Smartphone machbar.

Diejenigen für die die Videosprechstunde nicht möglich ist, sollen auch weiterhin in die Praxis kommen. Dabei sollten die Hygiene-Vorschriften streng berücksichtigt werden – Patienten und Psychotherapeuten sollten Abstand zueinander einhalten. Wir empfehlen Gemeinschaftspraxen, den Wartebereich vorübergehend zu schließen und die Patienten zu bitten, erst fünf Minuten vor dem Termin zu erscheinen.

DÄ: Welche Maßnahmen für die psychische Gesundheit/Psychohygiene empfehlen Sie allgemein, um die Corona-Krise gut zu überstehen?
Winter: Ganz grundsätzlich gilt in dieser Krise, was auch sonst gilt: Gute Selbstfürsorge, vor allem genug Bewegung im Freien, gesunden Schlaf, gesunde Ernährung und genügend Trinken.

Bei der Informationsbeschaffung sollten alle auf seriöse Quellen zurückgreifen und Panikmacher vermeiden. In der Familie und Freundeskreis sich gegenseitig unterstützen, über das Thema sprechen, aber nicht ausschließlich. Wichtig ist bei aller Bedrohlichkeit, die Relationen nicht aus dem Blick zu verlieren - besonnen und nicht panisch zu reagieren und den gesunden Menschenverstand walten zu lassen. © PB/aerzteblatt.de

Kommentare

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Avatar #782267
912dh5o404y7
am Freitag, 20. März 2020, 17:05

Videosprechstunde wäre schön....

... wenn sie denn funktionieren würde. Die Latenz ist derart hoch, dass man kaum empathisch auf den Patienten reagieren kann. Außerdem dürfen Kinder und Jugendliche nicht per Videosprechstunde behandelt werden. Den direkten Kontakt zum Patienten vermeide ich aktuell, da ich leider die Erfahrung des Vorschreibers teile, dass viele Patienten somatisch krank (von Grippe bis Durchfall alles dabei) zur Therapie kommen. Ich habe mich selbst schon oft angesteckt und meine eigenen kleinen Kinder dann auch - was ich sehr ärgerlich finde. Ein Rettungsschirm für Praxen würde zumindest die Existenzsorgen mindern, das wäre schön!
Avatar #752363
psychbrwg
am Dienstag, 17. März 2020, 23:10

Einstufung als systemrelevant unverantwortlich

Ich habe es oft genug erlebt, dass Patienten krank in die Sprechstunde kommen und eine schlechte Selbstfürsorge betreiben, oder so narzisstisch sind, dass es sie schlichtweg nicht interessiert, was mit anderen ist. Zudem weiß ich im Einzelfall nicht, wie sehr sie sich an Verhaltensregeln halten. Es gibt nicht nur die Eltern von Kindern unter uns, sondern auch die direkten Angehörigen von chronisch Kranken, Immunsupprimierten etc. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, dass vorübergehend auch telefonische Sprechstunden abgehalten und abgerechnet werden dürfen. Und es muss auch einen Schutzschirm geben, da es zu tlw. massiven Honorareinbußen kommen kann, die früher oder später existenzgefährdend werden können. Viele werden, um das zu verhindern, die Gefährdung der eigenen Gesundheit (altersbedingt) und/ oder die ihrer Liebsten , sowie die aller anderen (Schneeballsystem) inkauf nehmen. Das ist unverantwortlich. Zumal auch eine entsprechende regelmäßige Desinfektion aller relevanten Flächen und Bereiche erfolgen müsste, die die i.d.R. Einfrau-Praxen nicht auch noch leisten können.
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