Medizin
Beatmungsplätze: Debatte um Kapazitäten und Alternativen
Montag, 30. März 2020
Schon zuvor kursierten im Netz wilde Spekulationen über zu geringe Ressourcen, bis hin zu abenteuerlichen Vorwürfen. Etwa über denkbare rassistische Benachteiligungen von Menschen mit Migrationshintergrund, wie die Sprecherin eines Migrantendachverbandes, Ferda Ataman, in einem Tweet argwöhnte und den Ärzten ein Rassismusdenken unterstellte. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin hat dies explizit zurückgewiesen.
Es gibt aber auch die quasi entgegengesetzte Spekulation, welche nicht die Kapazität der Therapieplätze, sondern den Therapiestandard kritisiert. So befürchtet Gunter Frank, niedergelassener Arzt in Heidelberg, dass die Intensivmediziner zu früh intubierten und dadurch Patienten eher gefährden würden – es also ein Zuviel an invasiver Beatmung geben könnte.
In einem SWR2-Hörfunkbeitrag stellte der Allgemeinmediziner mehrfach zur Diskussion, ob womöglich die vielen Todesfälle in Italien mit der falschen – viel zu frühen invasiven – Beatmung der COVID-19-Patienten zu tun haben. Es klang fast so, als dürfe man als COVID-19-Patient froh sein, nicht intubiert zu werden. Frank beruft sich dabei auf die kürzlich publizierte „Empfehlung zur Behandlung respiratorischer Komplikationen bei akuter Virusinfektion außerhalb der Intensivstation“ des Verbandes der Pneumologischen Kliniken (VPK).
Das Problem ist eher der Mangel an Personal als an Geräten
Solche Extreme zeigen das breite Spektrum dessen auf, was im Internet kursiert, auch wenn es keine Evidenz dafür gibt. So ist zum Beispiel ein Defizit an Beatmungsgeräten eher unwahrscheinlich. Genährt wird die Befürchtung gleichwohl durch die Verbreitung eines Youtube-Videos, das erklärt, wie man zwei oder mehrere Patienten an ein einziges Beatmungsgerät hängen könnte. Es beruft sich auf eine wissenschaftliche Publikation aus dem Jahr 2006, die die Knappheit an Behandlungsplätzen in manchen Kliniken nach den Anschlägen vom September 2001 zum Thema macht (Neymann et al, 2006).
Tobias Welte, Leiter der Klinik für Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und einer der profiliertesten deutschen Experten für Intensiv- und Infektionsmedizin, klärt über die momentane Situation auf: „Wir haben ausreichend Intensivkapazitäten. Die Limitation für die Versorgung der Patienten ist die Personalkapazität, nicht die Kapazität an Beatmungsgeräten“, betont er auf Nachfrage.
Zudem seien weitere Lieferungen von Hochleistungsbeatmungsgeräten von der Bundesregierung angekündigt und würden in den nächsten Wochen realisiert. Derzeit könne noch jeder Patient eine medizinisch optimale Versorgung bekommen, hält der Chefarzt fest: „Noch immer haben wir ausreichend Intensivkapazitäten und sind weit von einer Situation wie in Italien oder Spanien entfernt.“
Bisher stellen die Kliniken in Deutschland über 28.000 Intensivbetten, fast 34 pro 100.000 Einwohner zur Verfügung, damit sind dies die höchsten Kapazitäten in Europa (Stand 24.03.2020). Italien hat im Vergleich dazu nur 40 % dieser Menge, Holland sogar weniger als 25 %. Von den Kliniken mit Betten für vollständige intensivmedizinische Behandlungen inklusive invasiver Beatmung meldeten 77-79 % in den vergangenen Tagen ausreichende Kapazitäten.
Praktikable Lösungsansätze
Auch die öffentlich diskutierten Befürchtungen, Beatmungsgeräte würden knapp werden oder könnten falsch verteilt werden, sind geeignet, Panik zu schüren. Allerdings werden längst Auswege gesucht und es gibt offenbar praktikable Lösungsansätze, um die Zahl der Beatmungskapazitäten noch einmal erheblich erhöhen zu können.
Während einige Kliniken darüber nachdenken, ihre Narkosebeatmungsmaschinen umzurüsten, berichtet Martin Groß, Chefarzt Klinik für Neurologische Intensivmedizin und Frührehabilitation am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg von der vergleichsweise einfachen Rekrutierung von Beatmungsgeräten: „Uns ist es an unserem Krankenhaus gelungen, ad hoc eine Intensivlogistik für 10 weitere Beatmungsbetten aufzubauen, indem Klinikversionen von Heimrespiratoren eingesetzt wurden.“
Es gebe sehr viele Geräte dieser Art, die nicht genutzt würden, sagte Groß dem Deutschen Ärzteblatt, etwa bei den Betreibern von Heimpflegeplätzen. Etliche davon seien sehr einfach in eine Klinikversion umzumünzen.
Heimrespiratoren in der Klinikversion können helfen
„Wir gehen davon aus, dass mittels der Verwendung von Heimrespiratoren in der Klinikversion oder auch der Heimversion ein entscheidender Flaschenhals in der Intensivmedizin in Bezug auf COVID-19 deutlich erweitert werden kann“, erklärte der Beatmungsexperte. Sie eigneten sich sowohl für die nicht-invasive Beatmung wie auch – unter bestimmten Bedingungen und Anpassungsmaßnahmen – für eine Intubationsbeatmung.
Wann invasiv beatmet werden muss, ist weniger umstritten, als die jüngst in den Medien geäußerten Zweifel vermuten lassen. Welte verweist auf die vor einer Woche von der DGIIN herausgegebenen, eindeutigen Empfehlungen für die Intensivtherapie von COVID-19-Patienten (Kluge et al. 2020).
Bei respiratorisch insuffizienten Patienten kann zunächst über nicht invasive Methoden versucht werden, die respiratorische Situation zu stabilisieren. „Wenn das – bei strengen Abbruchkriterien – nicht gelingt müssen die Patienten intubiert und beatmet werden“, stellt Welte fest. Dem widersprechen die Empfehlungen des Verbandes der Pneumologischen Kliniken auch nicht, denn auch sie halten fest, dass die Verlegung auf eine Intensivstation vom Einzelfall abhängig gemacht werden sollte.
Markus Heim, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Klinikum rechts der Isar der TU München (TUM), hält es zudem für wichtig, zu differenzieren: „Nicht jeder Patient, der eine intensivmedizinische Überwachung benötigt, benötigt auch eine Intubation und nicht jeder, der über eine Maske Sauerstoff erhält, muss auf die Intensivstation“. Dass eine zu frühe Intubation den Alveolen auch schaden könnte, wie jetzt Kritiker anführen, sei letztlich trivial, „zu früh soll man ohnehin nie intubieren“, so der Intensivmediziner.
Zwischenstufen der Beatmung, deren Nutzen unterschiedlich bewertet werden
Zwischen einer einfachen Hilfe wie Sauerstoffgabe über eine Brille und einem intratrachealen Tubus, gibt es gleichwohl Zwischenstufen, deren Nutzen von Experten unterschiedlich bewertet wird. „Wir wissen zwar, dass zum Beispiel eine High-Flow Beatmung mit einer Maske die Zahl der Intubationen verringern kann“, so Heim, aber „unklar ist, ob dadurch die Sterblichkeit gesenkt werden kann – also ob ein echter Nutzen für den Patienten gegeben ist“.
Zudem stammten die bisherigen Daten zu diesen Beatmungsmethoden von Patienten, die an respiratorischen Problemen anderer Genese litten. Man könne das also nicht ohne weiteres auf die durch SARS-CoV2 hervorgerufenen Störungen übertragen. Außerdem sind die Masken bei dieser Form der nicht-invasiven Beatmung nicht vollständig dicht und es besteht die Befürchtung, dass dadurch mehr Viren in die Umgebung gelangen.
„Wenn dann das Personal vermehrt infiziert würde und ausfiele, würde dies die Personalknappheit – das eigentliche Nadelöhr der Intensivpflegeplätze – nur weiter verschärfen“, so Heim. Wer also argumentiere, die nicht-invasive Beatmung schütze wertvolle Ressourcen, müsse bedenken, dass nicht die Zahl der Geräte nach derzeitigem Kenntnisstand der limitierende Faktor sind, sondern die Pflegekräfte, die an ihnen arbeiten.
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Welte warnt ebenfalls nachdrücklich vor Fehlreaktionen. „Noch immer kann hier jeder Patient eine medizinisch optimale Versorgung bekommen“, so der Pneumologe. „Das kann sich ändern, dann muss man neu diskutieren. Jetzt aber Werbung für 50 Jahre alte Beatmungsmethoden zu machen, die den heutigen mit Sicherheit unterlegen sind, halte ich für wenig sinnvoll“. Die derzeit außergewöhnliche Situation sollte seiner Ansicht nach nicht dazu verführen, von evidenzbasierter medizinischer Therapie abzuweichen, solange das nicht wirklich nötig sei.
Vor diesem Hintergrund sind die inzwischen zahlreichen Bemühungen zu bewerten, die nur bedingt einen Ersatz für Beatmungsplätze darstellen. Ein Forscherteam der Universität Marburg hat im Rahmen des so genannten „Breathing project“ den Vorschlag gemacht, CPAP-Geräte (Continous Positive Airway Pressure) zu nutzen. Sie werden zur Behandlung der Schlafapnoe eingesetzt und sind in vielen Privathaushalten vorhanden.
Man könne sie erweitern, erste Prototypen würden am Universitätsklinikum Marburg bereits eingesetzt und positiv bewertet, heißt es in einer Pressemitteilung der Universität. Allerdings sind diese Geräte nicht geeignet, Patienten mit starker Dyspnoe zu behandeln, allenfalls zur Überbrückung, zum Beispiel nach einer Erholung der Atemfunktion nach invasiver Beatmung.
Als „last line of defense“ würde man in Marburg auch Ambubeutel (Ambu Bags, Beatmungsbeutel) einsetzen wollen. Die Beutel müssen allerdings ständig neu komprimiert werden. Für den Fall, dass hierfür nicht genügend Personal zur Verfügung stünde, will man in Marburg mechanische Apparaturen entwickeln, die die Ambubeutel periodisch zusammendrücken.
Dies klingt jedoch eher nach einer historischen Ultima Ratio, die an die Situation erinnert, als man bei Polioepidemien Menschen auf diese Weise beatmet hat. Der Ärztliche Geschäftsführer der Marburger Klinikums, Harald Renz, räumt denn auch ein, dass die Geräte wohl eher in anderen Weltregionen eine echte Erstlinienoption darstellten.
7.000 Patienten in Krankenhäusern
In den Krankenhäusern in Deutschland werden unterdessen momentan rund 7.000 Menschen mit COVID-19 behandelt. Davon befinden sich rund 1.500 Patienten auf Intensivstationen, von denen etwa 1.100 beatmet werden müssen. Das teilte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) auf Nachfrage mit.
„Wir haben es geschafft, die so wichtigen Beatmungsplätze im Bereich der Intensivmedizin von ehemals 20.000 Plätzen auf zwischenzeitlich 30.000 zu steigern“, sagte DKG-Präsident Gerald Gaß.
Die weitere Entwicklung hänge jetzt sehr stark von der Belieferung mit zusätzlichen Beatmungsgeräten durch die Industrie ab. Die Bundesregierung hatte zur Aufstockung der Kapazitäten in den Krankenhäusern 10.000 neue Beatmungsgeräte bestellt. © mls/dpa/aerzteblatt.de

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