Politik
„Es ist eine Zumutung, dass Standards immer weiter herabgesetzt werden“
Freitag, 3. April 2020
Bremen – Eine der großen Herausforderungen in der Corona-Pandemie ist die Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung. Durch die weltweit stark gestiegene Nachfrage und durch zeitweise Produktionsstopps in China geht der Vorrat an Schutzmaterialien auch in Deutschland vielerorts zur Neige.
Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt erklärt die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, Heidrun Gitter, wie die Lage in den Praxen und Krankenhäusern derzeit ist, welche Maßnahmen sie sich jetzt von der Regierung wünscht und was sie von dem Vorschlag hält, Schutzmasken nach einer Hitzebehandlung erneut zu verwenden.
5 Fragen an Heidrun Gitter, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer, zur derzeitigen Corona-Lage in den Praxen und Krankenhäusern.
DÄ: Wie ist derzeit die Situation in den Arztpraxen und Krankenhäusern?
Gitter: Derzeit sind die Reserven nahezu aufgebraucht. In etlichen Praxen ist kein Schutzmaterial – vor allem geeignete Masken – mehr vorhanden. Problematisch ist die Lage insbesondere bei zertifizierten Mund-Nasen-Masken und FFP2-Masken, aber auch Schutzkittel zum Beispiel für OPs werden knapp. Im Bereich Desinfektionsmittel ist es ebenfalls eng, aber hier hat sich die Lage etwas entspannt, weil viele regionale Hersteller inklusive etlicher Apotheken helfen.
In den Kliniken gibt es abenteuerliche Zustände mit persönlich zugeteilten Masken, die zwischen den Verwendungen auf ebenso zugeteilten Haken getrocknet werden sollen, oder von Behältern, in denen Masken gesammelt werden zu einer „Aufbereitung“ oder zur Aufbewahrung, bei der zwar die Masken abgeschirmt werden, die jedoch Schimmelbildung begünstigt.
Auch von in der Not selbst genähten Mund-Nasen-Schutz-Masken in Unikliniken und Hausarztpraxen habe ich gehört. Da erscheint mir jegliche Diskussion über eine Maskenpflicht für die Bevölkerung absurd, zumal es bislang für diese Anwendung weder eine Evidenz für den Schutz der Träger noch für eine Verhinderung der Ausbreitung der Epidemie gibt.
DÄ: Wie sollen sich niedergelassene Ärzte verhalten, wenn sie keine Schutzausrüstung mehr in ihrer Praxis haben?
Gitter: Gut wäre es, mit Kolleginnen und Kollegen einer Region eine zentralisierte Versorgung der Infektionspatienten abzusprechen, um Ressourcen an Schutzausrüstung zu sparen, wo es geht, und um Patientenwege konsequent zu trennen – vor allem auch zum Schutz der chronisch Kranken. Das wird vielerorts schon gemacht und gut organisiert. Schutzschilde vor Mund, Nase und Augen könnten eine Behelfslösung sein, vor allem in der Versorgung von Patienten ohne dringenden Verdacht einer SARS-CoV-2 Infektion.
Solche Patienten, vor allem aber Patienten mit positivem Virustest können ohne adäquate Schutzausrüstung nicht versorgt werden. Aber auch die Versorgung der anderen Patienten muss ja sicher geleistet werden können. Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind hier sehr wichtig, auch, weil sie die Kapazitäten der Kliniken freihalten für jene Patienten, die tatsächlich stationär behandelt werden müssen.
DÄ: Wie bewerten Sie die am 1. April veröffentlichten Empfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums, Schutzmasken nach einer Hitzebehandlung erneut zu verwenden?
Gitter: Ich hätte es gerne als einen Aprilscherz betrachtet. Denn ich halte es für eine Zumutung, dass nun Standards immer weiter herabgesetzt werden, ohne dass klar ist, ob die notwendige Sicherheit noch besteht.
Das betrifft weniger die Tatsache, dass eine ausreichende Hitze die Viren abtöten kann, sondern die Problematik, dass schon die komplexen Vorgänge des personalisierten Sammelns und Aufbereitens der Masken eine sichere Wiederverwendung gefährden. Zudem sind diese Vorgänge ihrerseits zeit- und personalaufwendig. Ich sehe kommen, dass wir auch dafür noch das Personal schulen müssen, anstatt es am Patienten einsetzen zu können.
Darüber hinaus sollen ja auch verschiedene nicht regulär zertifizierte Masken zum Einsatz kommen, ohne dass eine Unterstützung bei der Prüfung zugesagt wurde, welche Quellen Masken liefern, die man für eine Aufbereitung verwenden kann. Das müssen die Anwender dann selbst übernehmen, inklusive der Haftungsverantwortung. Auch dafür fehlt in dieser Situation den Klinikern die Zeit – abgesehen davon, dass es aus meiner Sicht eine unzulässige Übertragung der Verantwortlichkeit ist.
Es wäre Aufgabe der zuständigen Ministerien, so wie zugesagt, die Beschaffung und Verteilung der Masken und auch die inländische Herstellung maximal zu unterstützen und zu beschleunigen: Überall laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, um in wenigen Wochen mit einer deutlich erhöhten Patientenzahl klarzukommen, und in den Ministerien rechnet man für eine ausreichende Beschaffung von medizinischer Schutzausrüstung in Monaten! Zudem ist der Vorschlag, Schutzmasken nach einer Hitzebehandlung erneut zu verwenden, für Pflegeheime und -dienste und für Vertragsärzte erst recht keine gangbare Lösung.
DÄ: Wie kann das Problem fehlender Schutzausrüstung kurzfristig gelöst werden?
Gitter: Es mehren sich wieder die Angebote auf dem Markt. Die Bundesregierung sollte hochdringlich Mechanismen haben, um hier ohne große Ausschreibungsrituale die Ausrüstung einzukaufen und dabei auch die Qualitätsprüfung zu übernehmen.
Es ist absurd, wenn in jeder Kommune jede Institution oder Kassenärztliche Vereinigung selber prüfen muss, ob ein per E-Mail eingegangenes Angebot aus Asien, für das Vorkasse verlangt wird, den Qualitätsanforderungen genügt oder Betrug ist. Das könnte und sollte alles zentral laufen. Zudem müssten Hersteller im Inland durch Abnahmeverträge, durch Vereinfachung der bürokratischen Vorgänge bei der Zertifizierung der Produkte und durch Unterstützung beim Vertrieb gefördert werden.
DÄ: Wie sollte sich Deutschland verhalten, um das Problem mittel- bis langfristig zu lösen?
Gitter: Die Situation ist – das muss man bei aller Kritik zugestehen – für alle neu und schwer zu bewältigen. Das wird auch von den Bürgerinnen und Bürgern verstanden. Zugleich können die Bürger aber auch Aktionismus von echter Hilfe unterscheiden. Es ist wichtig, dass jede und jeder auch weit weg vom Patienten alles gibt, um gemeinsam das Bestmögliche zu erreichen.
Wir haben in Deutschland eine hervorragende Hilfsbereitschaft und auch kreative Lösungsvorschläge. Unternehmen stellen ihre Produktion um, Kliniken helfen sich, Vertragsärzte entwickeln regional sinnvolle Lösungen, Pflegende springen ein, Studierende bieten ihre Hilfe an, Bürger helfen einander und vor allem den Schwachen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Hier brauchen wir eine unbürokratische Unterstützung dieses Engagements durch Regierungen und Behörden.
Nicht immer ist der Ruf nach einem starken Mann richtig, das wissen wir doch zu gut aus der Vergangenheit. Bürgerliches Engagement und Selbstverwaltung haben in Deutschland eine gute und erfolgreiche Tradition. Wir brauchen weniger „Notstandsgesetze“ und mehr Stärkung dieser Tradition! © fos/aerzteblatt.de

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