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Politik

Wunsch nach mehr Expertise bei politischen Entscheidungen zu SARS-CoV-2

Dienstag, 7. April 2020

/picsfive, stock.adobe.com

Berlin − Mehrere Experten aus Medizin und Gesundheitswissenschaft fordern Exper­tise aus mehreren Wissenschaftsbereichen für politische Entscheidungen bei der Bewäl­tigung der Corona-Pandemie.

Da die Auswirkungen auf die „aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur im Rahmen einer gesamtgesell­schaftlichen Anstrengung zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissen­schaften und Politikwissenschaft unverzichtbar“, schreiben die fünf Autoren und eine Autorin. Ebenso dürften „demokratische Grundsätze und Bürgerrechte nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden.“

Zu dem Verfasserteam gehören:

Matthias Schrappe, Universität Köln und ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrates Gesundheit, Hedwig Francois-Kettner, Pflegemanagerin und ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Matthias Gruhl, Arzt für das Öffentliche Gesundheitswesen und ehemaliger Vertreter der Länder in zahlreichen Ausschüssen auf Bundesebene, Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbandes, Holger Pfaff, Uni Köln und ehemaliger Vorsitzender des Expertenbeirates des Innovationsfonds, sowie Gerd Glaeske, Universität Bremen und ebenfalls ehemaliges Mitglied des Sachverstän­digen­rates Gesundheit.

Zusammen fordern sie in ihrem mehrseitigen Thesenpapier unter dem Titel „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“, dass die derzeit vorliegenden epidemiologischen Daten nicht allein ausreichen, um als Absicherung für die weitreichenden Entscheidungen für das öffentliche Leben zu gelten. Das Autoren-Team beschreibt in vier Thesen die Problematik bei der aktuellen Datenlage: So habe die Zahl der gemeldeten Infektionen „nur eine geringe Aussagekraft, da kein populations­bezogener Ansatz gewählt wurde.“

Dazu zähle, dass die Zahlen des RKI auch von der Testverfügbarkeit vor Ort und der reg­io­nalen Anwendungshäufigkeit beeinflusst werde. „Unter Berücksichtigung dieser anlass­bezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sogenannten Verdopp­elungs­zeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen“, heißt es in dem Papier.

Durch die täglich Aktualisierten Kurven entstehe eine „überzeichnete Wahrnehmung“, da­her sollte diese Zahl „um die Gesamtzahl der asymptomatischen Träger und Gene­senen korrigiert“ werden. Die Gesundheitswissenschaftler sehen auch die Zahlen zur Sterblich­keit als „überschätzt“, da sie derzeit „nicht valide interpretiert“ werden könnten.

Dazu gehöre auch, dass COVID-19 durch ein „lokales Herdengeschehen“ in regionalen Clustern, wie beispielsweise dem Landkreis Heinsberg oder auch den stark betroffenen Pflegeheimen, geprägt sei. „SARS-COVID-19 stellt keine homogene, eine ganze Bevöl­kerung einheitlich betreffende Epidemie dar.“

Aus diesem Grund – so These zwei – müssten auch die allgemeinen Präventions­strate­gien präzisiert werden. Denn die Autoren gehen davon aus, dass es frühestens Mitte 2021 einen entsprechenden Impfstoff gibt.

Die derzeit praktizierte Soziale Distanzierung sei „theoretisch schlecht abgesichert, in der Wirksamkeit beschränkt und zudem paradox und hinsichtlich der Kollateralschäden nicht effizient.“ Als „paradox“ bezeichnen die Wissenschaftler diese Situation, da je wirksamer das Ziel „Abflachen der Kurve“ praktiziert werde, desto „wahrscheinlicher ist das Auftre­ten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen, weil in der vorangegang­enen Welle eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht werden konnte.“

Mit Blick auf die Saisonalität und den Winter 2020/2021 werben die Wissenschaftler da­für, dass die derzeitigen Präventionsmaßnahmen erzählt und durch „zielgruppen-orien­tierte Maßnahmen“ ersetzt werden. „Aufgrund der Komplexität erscheint es nicht zielfüh­rend, auf eine einzige Form der Maßnahmen zu setzen, nämlich die unterschieds­lose Beschränkung der persönlichen Kontakte.“

Zielgruppe für neue Präventions­strategien sei dabei vor allem die Menschen mit hohem Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt mit einem Pflegeheim oder mit einem Krankenhaus sowie für Menschen, die in einer Region mit einem lokalen Ausbruchsge­schehen leben.

Dabei sollten vor allem in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen der Fokus auf die Eindämmungs- und Schutzstrategien für Patienten, Bewohner aber auch für Mitar­bei­tende erarbeitet und ergänzt werden. Für Präventionsstrategien in diesem Bereich müss­ten besonders Pflegeexperten einbezogen werden, heißt es. Für die möglichen regiona­len Ausbrüche der Krankheit müsse es eine „Hochrisiko-Taskforce“ geben, die zügig auf die entstehenden Erkrankungscluster reagieren kann.

Das Autoren-Team warnt vor den sozialen Ungleichheiten, die durch das aktuelle Pande­m­­ie-Geschehen entstehen. So sei – heißt es in These drei – der Shut-down des öffentli­chen Lebens „anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken.“

Gerade Menschen mit niedrigem Einkommen sowie Selbstständige treffen die bevöl­ke­rungsbezogenen Maßnahmen deutlich stärker als andere Personengruppen, schreiben die Autoren. Auch seien die Lasten in der Gesellschaft nicht gleich verteilt – dazu zählen die psychosozialen Einschränkungen für Familien in kleineren Wohnungen sowie familiäre Gewalt, als auch die Fähigkeit, die eigenen Kinder über einen längeren Zeitraum zu un­terrichten.

Die ökonomischen Risiken, die „mit dem Fortbestehen und den eventuellen Verschär­fungen in der Einschränkung von Freizügigkeit und Berufsausübung verbunden sind“, würden weiter verschärft.

Auch bestehe aus Sicht der Experten die Gefahr, dass „unter dem Verweis auf den unauf­schiebbaren Handlungsbedarf autoritäre Elemente des Staatsverständnisses aus Ländern mit totalitären Gesellschaftssystemen in das deutsche Staats- und Rechtssystem über­nommen werden.“ Speziell gehen die Autoren auf Ideen zur individuellen Handyortung als mögliche Voraussetzung für die Lockerung der „Kontaktsperre“ ein.

„Natürlich sind die zur Kontrolle vorgesehenen Handy-Apps noch freiwillig, doch geht die Vorstellung, dass der nächste Schritt in der Anordnung liegen könnte, das Betreten eines Supermarktes nur noch mit eingeschalteter Bluetooth-Funktion zu erlauben, weit über demokratische Grundrechte hinaus.“

Die Autoren erkennen an, dass „die deutsche Gesellschaft stabil genug ist, die genannten Tendenzen wieder einzufangen: Wir wollen unser Land nach COVID-19 noch wiederer­kennen“. © bee/aerzteblatt.de

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