Politik
Ethikrat wirbt für breite, sachliche und soziale Debatte über Öffnungsperspektiven
Dienstag, 7. April 2020
Berlin – Der Deutsche Ethikrat ermutigte heute die Bevölkerung, sich in die Debatte über eine Lockerung der massiven Beschränkungen im öffentlichen Leben im Rahmen der COVID-19-Pandiemie einzubringen. „Es ist zu früh, Öffnungen jetzt vorzunehmen. Aber es ist nie zu früh, über Kriterien für Öffnungen nachzudenken“, sagte der Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock, heute in Berlin.
Es stimme dabei nicht, dass man den Menschen damit falsche Hoffnungen mache. „Hoffnungsbilder brauchen Menschen genau dann, wenn sie in einer katastrophalen Situation wie der jetzigen sind. Das motiviert zum Durchhalten“, sagte der Theologe. Darauf hätten auch Psychologen immer wieder hingewiesen. „Entscheidend ist, welche Hoffnungsbilder in den Blick genommen werden und wie sie kommuniziert werden“, erklärte der Ratsvorsitzende.
Die derzeitige Kommunikationsstrategie der Politik über Öffnungsperspektiven hält der Theologe allerdings für „verbesserungswürdig“. Zu einseitig werde die Debatte über den Zeitaspekt geführt. „Die sachlichen und sozialen Kriterien werden hintenangestellt“, kritisierte Dabrock. Wenn Lockerungen aufgeschoben werden müssten, würde das zwangsläufig zur Frustration führen und könne die derzeit hohen Zustimmungsraten gefährden.
Immer wieder die Verhältnismäßigkeit der Entscheidungen überprüfen
Besser ist es nach Ansicht des Ethikrates, die sachlichen Notwendigkeiten des gegenwärtigen Lockdowns wie „seine sozialen, zum Teil gravierenden Nebenfolgen“ in den Vordergrund zu stellen. „Das heißt konkret: immer wieder ehrlich und kritisch zu überprüfen, ob die Maßnahmen für alle oder für einzelne Gruppen weiterhin geeignet, erforderlich und angemessen, sprich: verhältnismäßig sind“, betonte Dabrock.
Das setze eine kontinuierliche, politisch moderierte gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung unterschiedlicher schutzwürdiger Güter und das Maß eines gesellschaftlich akzeptablen Risikos voraus.
Bei dieser gesellschaftlichen Debatte bestehe die Herausforderung nicht darin, ob Leben oder Wirtschaft primär zu sichern seien. Neben wirtschaftlichen Problemen gebe es schon jetzt Solidaritätskonflikte − auch mit Blick auf die Schutzgüter Gesundheit und Leben. „Der Blick auf die Notwendigkeit, den an COVID-19 Erkrankten zu helfen, verleitet bisweilen dazu, die Opfer des Lockdowns aus dem Blick zu verlieren“, warnte Dabrock.
Doch in der Realität sehe es so aus: Wichtige Operationen würden verschoben, Präventionsuntersuchungen abgesagt. Therapien zur Überwindung von psychischen Problemen, Alkoholsucht, Depression oder Gewalttendenz würden trotz drohender hoher Rückfallquoten unterbrochen.
Menschlichkeit leidet
Kranke und Sterbende würden nicht mehr so begleitet, wie es die Menschlichkeit erfordere. Beerdigungen würden oft auf ein Minimum reduziert, obwohl sie besonders wichtig für die Trauerbewältigung seien. „Die Not ist groß. Die Solidarität ist es ebenfalls, aber sie ist nicht unerschöpflich, und sie gerät in Konflikte“, betonte Dabrock.
Die jetzt ergriffenen Maßnahmen müssten daher mit den schweren gesellschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen des Lockdowns abgeglichen werden. „Das wird vermutlich nicht bruchfrei gelingen, aber wir müssen alles versuchen, den Schaden auf beiden Seiten möglichst gering zu halten“, sagte der Ratsvorsitzende.
Der Deutsche Ethikrat begrüßt es, dass seit Erscheinen seiner Stellungnahme „Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise“ am 27. März in weiteren Initiativen eine Abwägung zwischen medizinisch Sinnvollem und sozial Tolerablem erfolgt. „Wir müssen weg von einem Alles-oder-nichts-Denken und -Handeln“, so Dabrock. „Je länger die Krise dauert, je mehr Stimmen dürfen, ja müssen gehört werden.“
Dabei sollten nicht nur medizinische Forscher zu Wort kommen, sondern auch Wissenschaftler aus den Gesundheits-, Sozialwissenschaften oder der Psychologie sowie Vertreter von Betroffenengruppen und Bürger. „Einer weiterhin notwendigen entscheidungsstarken Politik schadet es nicht, zuzuhören, zu beteiligen und auch Grenzen der eigenen Kompetenz anzuerkennen“, meint der Ethikrat. „Die Coronakrise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik.“
Wesentlicher Orientierungspunkt ist nach Ansicht des Rates derzeit die weitgehende Vermeidung von Triage-Situationen, in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen wären, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll. „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist“, betonte er.
Der Deutsche Ethikrat geht das komplexe Problem der Triage in einer mehrfach abschichtenden Vorgehensweise an: Zu diesen zähle die aus dem Menschenwürdegrundsatz abgeleitete egalitäre Basisgleichheit aller Menschen, erläuterte der Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg. Sie verbiete es dem Staat, qualitative oder quantitative Kriterien an das menschliche Leben anzulegen. „Jeder Mensch ist gleich viel wert.“
Empfehlungen von medizinischen Fachgesellschaften hält der Rat für hilfreich, es seien aber die Grundvorgaben des Rechts zu beachten. „Moralische Einschätzungen mögen eine abweichende Handhabung nahelegen – etwa den Schutz einer jüngeren gegenüber einer älteren Person. Zur Rechtmäßigkeit des Handelns führt dies aber nicht“, betonte Augsberg.
Ärzte sollten in tragischen Situationen die Leitplanken von Recht und fachgesellschaftlichen Empfehlungen bedenken – idealerweise in multiprofessionellen Teams und beraten durch lokale Ethikkomitees.
„Wir wissen, dass die Beschäftigung mit solchen Triage-Szenarien ganz reale Ängste auslöst. Das betrifft nicht nur diejenigen, die die Zuteilungen vornehmen müssen, sondern auch und gerade diejenigen, die befürchten, von einer lebensrettenden Maßnahme ausgeschlossen zu werden“, sagte der Jurist.
Beiden Gruppen gegenüber sei die Botschaft wichtig, dass unsere Gesellschaft ihre Nöte und Sorgen anerkennt und sie nicht im Stich lässt. „Auch in der Krise besteht keine Veranlassung, Vertrauen in unseren Rechtsstaat oder unser Gesundheitssystem zu verlieren.“ © ER/aerzteblatt.de

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