Medizin
Archäologen: SARS-CoV-2 gelangte über Deutschland und Singapur nach Italien
Donnerstag, 9. April 2020
Cambridge − Eine phylogenetische Netzwerkanalyse, die ursprünglich von Archäologen zur Rekonstruktion der menschlichen Stammesgeschichte entwickelt wurde, ermöglicht es, die Wege des SARS-CoV-2 von China in andere Kontinente nachzuvollziehen. Eine Publikation in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States (PNAS 2020; doi: 10.1073/pnas.2004999117) zeigt unter anderem, dass das Virus über Deutschland und Singapur nach Italien gelangte.
Schon bald nach der Entdeckung des neuen Coronavirus, das heute als SARS-CoV-2 bezeichnet wird, begannen Forscher, die Genome der Viren zu sequenzieren und die Ergebnisse auf der Plattform GISAID zu speichern. GISAID („Global Initiative on Sharing Avian Influenza Data“) war 2006 gegründet worden, um die Entwicklung der Vogelgrippe zu verfolgen. Inzwischen wird die – übrigens vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft – gehostete Webseite von Forschern genutzt, um Genominformationen zu SARS-CoV-2 auszutauschen.
Am 4. März waren bei GISAID 254 Genome von Coronaviren gespeichert, darunter 244 von SARS-CoV-2, die beim Menschen isoliert wurden. 9 weitere wurden in chinesischen Schuppentieren (Pangolin) isoliert, das auf Märkten in China gehandelt wird und als Zwischenwirt in der Diskussion ist. Ein Genom stammt von Rhinolophus affinis, einer Fledermausart.
Peter Forster vom McDonald Institute for Archaeological Research an der Universität Cambridge hat zusammen mit Kollegen der Universitäten Kiel und Münster die Daten von 160 Genomen mit der Software „Network5011“ ausgewertet, mit der sich aus Genomdaten Stammbäume erstellen lassen. Die Stammbäume beruhen auf genetischen Veränderungen, zu denen es infolge der ständigen Mutationen der Viren kommt.
Die Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass das Virus ursprünglich in Rhinolophus affinis entstanden ist. Die Übereinstimmung mit dem menschlichen Virus beträgt 96,2 %. Der Stammbaum zeigt, dass sich die Viren in 3 verschiedene Typen entwickelt haben. Der Typ A ist dem Fledermaus-Coronavirus am ähnlichsten und somit wahrscheinlich der Urahn aller menschlichen Coronaviren. Dies haben laut Forster auch weitere Vergleiche mit 2 entfernter verwandten Pangolin-Coronavirus-Stämmen bestätigt.
Aus dem Typ A hat sich schon bald der Typ B entwickelt. Die Viren unterscheiden sich durch 2 Mutationen. Eine weitere Mutation führte dazu, dass aus dem Typ B der Typ C entstand. Der Typ B hat sich laut der Stammbaum-Analyse schon bald in Wuhan durchgesetzt. Er ist in Ostasien der häufigste Typ.
Die Typen A und C gelangten dagegen frühzeitig nach Europa, Australien und Amerika, wo sie offenbar auf fruchtbareren Boden fielen als in China. Der Typ C scheint auch in Singapur verbreitet zu sein. Ob die Mutationen dafür verantwortlich sind oder ob es sich um eine zufällige Entwicklung handelt, dürfte derzeit nicht zu beantworten sein.
Die Forscher konnten in mehreren Fällen die Infektionswege rekonstruieren, darunter war auch der Ausbruch in Norditalien. Ursprünglich war angenommen worden, dass sich „Patient Eins“ bei einem Kontakt aus Wuhan infiziert hatte. Doch diese Kontaktperson wurde negativ getestet.
Das phylogenetische Netzwerk weist jetzt auf mindestens 2 unabhängige frühe Infektionswege hin. Eine Spur führt zu einem Angestellten des Automobilzulieferers Webasto in Gauting bei München, der Ende Februar erkrankt war. Die andere Spur bringt den Ausbruch in Norditalien mit einem „Singapur-Zweig“ in Verbindung.
Von Italien aus gelangte das Virus dann unter anderem nach Brasilien. Der erste Patient dort hatte vor seiner Diagnose Italien besucht. Die Netzwerkanalyse bestätigt, dass es eine genetische Verbindung zu einem viralen Genom gibt, dass in Italien sequenziert wurde.
Bei einem Patienten aus der kanadischen Provinz Ontario war bekannt, dass er zuvor von Wuhan in Zentralchina nach Guangdong in Südchina gereist und dann nach Kanada zurückgekehrt war, wo er am 27. Januar als einer der ersten Kanadier erkrankte. In der Stammbaum-Analyse ließen sich 2 „Ahnenknoten" in Foshan und Shenzhen (beide in der Provinz Guangdong) identifizieren. © rme/aerzteblatt.de

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