Politik
Leopoldina: Öffentliches Leben unter Bedingungen normalisieren
Montag, 13. April 2020
Halle – Die Forschungsgemeinschaft Leopoldina als wichtiger Berater der Bundesregierung hat in einer neuen Stellungnahme eine Maskenpflicht für den öffentlichen Personenverkehr vorgeschlagen. Zudem sprachen sich die Forscher heute dafür aus, die Schulen schrittweise zunächst für jüngere Schüler wieder zu öffnen.
Der Betrieb in Kindertagesstätten sollte „nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden“. Die Datenerhebung muss nach Ansicht der Wissenschaftler deutlich verbessert werden, auch mithilfe von Corona-Apps.
„Da die Jüngeren im Bildungssystem mehr auf persönliche Betreuung, Anleitung und Unterstützung angewiesen sind, sollten zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe I wieder schrittweise geöffnet werden.“ Die Möglichkeiten des Fernunterrichts „können mit zunehmendem Alter besser genutzt werden“, so die Forscher.
„Deshalb ist zu empfehlen, dass eine Rückkehr zum gewohnten Unterricht in höheren Stufen des Bildungssystems später erfolgen sollte." Dabei seien unterschiedliche Übergangsformen und Verknüpfungen zwischen Präsenzphasen und Unterricht auf Distanz mithilfe digitaler Medien denkbar. Prüfungen sollten aber „wenn eben möglich“ abgehalten werden.
Die Empfehlung, den Kita-Betrieb nur sehr eingeschränkt wiederaufzunehmen, begründen die Forscher damit, dass kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können.
Gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen sollten „in Abhängigkeit von der möglichen räumlichen Distanz und den Kontaktintensitäten der Beteiligten (...) nach und nach wieder ermöglicht werden“, empfahlen die Forscher weiter.
Neuinfektionen stabilisieren
Die Normalisierung des öffentlichen Lebens könne schrittweise unter folgenden Voraussetzungen erfolgen: Die Neuinfektionen müssten sich auf niedrigem Niveau stabilisieren, notwendige klinische Reservekapazitäten müssten aufgebaut und die Versorgung der anderen Patienten wieder regulär aufgenommen werden, die bekannten Schutzmaßnahmen müssten diszipliniert eingehalten werden.
„So können zunächst zum Beispiel der Einzelhandel und das Gastgewerbe wieder öffnen sowie der allgemeine geschäftliche und behördliche Publikumsverkehr wiederaufgenommen werden“, schreiben die Wissenschaftler in ihrer dritten Ad-hoc-Stellungnahme zur Corona-Pandemie.
„Darüber hinaus können dienstliche und private Reisen unter Beachtung der genannten Schutzmaßnahmen getätigt werden.“ Weiter heißt es: „Das Tragen von Mund-Nasen-Schutz sollte als zusätzliche Maßnahme in bestimmten Bereichen wie dem öffentlichen Personenverkehr Pflicht werden.“
Tracking nutzen
Die Datenerhebung zum Infektions- und Immunitätsschutz sei „substanziell zu verbessern, insbesondere durch repräsentative und regionale Erhebung des Infektions- und Immunitätsstatus“. Die Daten sollten „in Echtzeit“ verarbeitet werden und so verlässlichere Kurzzeitprognosen ermöglichen.
„Dabei sollte die Nutzung von freiwillig bereitgestellten GPS-Daten in Kombination mit Contact-Tracing, wie dies beispielsweise in Südkorea der Fall ist, möglich sein“, schreiben die Forscher zum Thema Corona-Apps.
„Dies würde die Präzision heute verfügbarer Modelle steigern, um insbesondere eine kontextabhängige, örtliche Auflösung und damit eine differenzierte Vorhersage des Pandemieverlaufs zu erlauben.“ Die Bürger sollten ihre Daten „anonymisiert, sicher und geschützt“ als Fundament für bessere Prognosen zur Verfügung stellen können.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will die Stellungnahme der Leopoldina mit in die gemeinsame Entscheidung mit den Ministerpräsidenten einfließen lassen. Die Bund-Länder-Beratungen darüber, welche Lockerungen nach den Osterferien in Deutschland möglich sind, finden am Mittwoch statt.
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In den Empfehlungen heißt es unter dem Punkt „Wirtschafts- und Finanzpolitik zur Stabilisierung nutzen“, staatliche Beteiligungen sollten nur im äußersten Notfall zur Stabilisierung von Unternehmen eingesetzt werden.
Mit dem Auslaufen der jetzigen gesundheitspolitischen Maßnahmen würden mittelfristig weitere expansive fiskalpolitische Impulse notwendig sein. Auf der Einnahmenseite könnten dies Steuererleichterungen sein, das Vorziehen der Teilentlastung beim Solidaritätszuschlag oder seine vollständige Abschaffung.
Auf der Ausgabenseite seien zusätzliche Mittel für öffentliche Investitionen, etwa im Gesundheitswesen, der digitalen Infrastruktur und im Klimaschutz wichtig. Die Krise erfordere in höchstem Maße ein europäisch-solidarisches Handeln.
Die Experten rufen zudem dazu auf, an der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festzuhalten. So sei an der Schuldenbremse im Rahmen ihrer derzeit geltenden Regeln festzuhalten. Dies erlaube gerade in so besonderen Zeiten wie der Corona-Krise eine deutlich höhere Verschuldung, verlange aber bei der Rückkehr zur Normalität wieder deren Rückführung.
Allgemein heißt es in diesem Zusammenhang, die in der Krise getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssten so bald wie möglich zugunsten eines nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen einer freiheitlichen Marktordnung rückgeführt oder angepasst werden.
Ähnliche Empfehlungen aus NRW
Eine Expertengruppe in Nordrhein-Westfalen (NRW) hatte ebenfalls Voraussetzungen für den möglichen Abbau der Einschränkungen in der Coronakrise aufgelistet. In dem Papier des interdisziplinären Teams heißt es, über Lockerungen könne erst nachgedacht werden, wenn klar sei, dass das Gesundheitssystem „absehbar nicht überfordert ist“ und Voraussetzungen für ein besseres „Monitoring“ der Krise geschaffen seien.
Dann aber könne die Rückkehr zur Normalität „schrittweise forciert werden“, heißt es in der 15-seitigen Ausarbeitung, die im Auftrag der NRW-Landesregierung erstellt wurde.
In Deutschland sind bis heute Mittag nach Informationen der Johns-Hopkins-University rund 127.800 Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert worden. Mehr als 3.000 Menschen starben bundesweit daran. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts haben etwa 64.300 Menschen die Infektion überstanden, etwa die Hälfte der bisher erfassten Infizierten. © dpa/afp/aerzteblatt.de

Öffentliches Leben unter Bedingungen normalisieren

Es ist schwer einzugestehen, dass Einschätzungen und daraus gezogene Konsequenzen nicht angemessen waren

Schrittweise Rückkehr jetzt!
Fangen wir von hinten mit den Statements an, die besagten, es gehe nicht um die „Kosmetik“ positiver Testergebnisse, sondern darum, schwere Krankheitsverläufe zu begrenzen, die die Kapazität des Gesundheitssystems überfordern. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) stellt Zahlen zu den intensivmedizinischen COVID-19-Behandlungen und den verfügbaren Kapazitäten zur Verfügung, die eine absolut kontrollierbare Situation abbilden. Am 30.03.2020 wurde über 1.500 COVID-19-Patienten auf Intensivstationen berichtet, von denen 1.100 beatmungspflichtig waren, 10 Tage später, am 08.04.2020 waren es mit 3.420 tatsächlich mehr als doppelt so viele. Die Patientenzahlen folgten mit Verspätung der Dynamik der positiven Testergebnisse. Jedoch war die durchschnittliche Verweilzeit in der Intensivmedizin gering, bei 1.566 Patienten war die Behandlung bereits abgeschlossen, bei 486 (31%) allerdings endete sie tödlich. Am heutigen 13.04.2020 vermeldet der Lagebericht des RKI unter Berufung auf DIVI 2.447 Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, davon 1.841 mit Beatmung, 3.253 Behandlungen waren abgeschlossen 952 Patienten (29%) verstorben. Das RKI berichtet, dass der Altersmedian der Todesfälle bei 82 Jahren liegt, 86% der COVID-19-Todesfälle waren 70 Jahre und älter. Die Zuwächse an Patienten mit positiven Testergebnissen deuten im gesamten April auf eine abgeschwächte Dynamik. Das DIVI meldet mehr als 8.000 freie Intensivbetten. Die Zeit ist entschieden reif für Lockerungen, für eine Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens in großen Schritten.
In den Medien wird vor allem mit Berichten über Todesfälle - mittlerweile fast 3.000 - Angst geschürt. Die Öffentlichkeit ignoriert die Tatsache, dass das Leben endlich ist, dass täglich in Deutschland 2.000 bis 3.000 Menschen sterben, dass 5 von 100 Achtzigjährigen das laufende Jahr nicht überleben werden. Hunderttausende betagte Deutsche – dement und/oder inkontinent – fristen in Pflegeeinrichtungen ein nur noch extrem eingeschränktes Leben. In einem Umfeld, in dem der Tod alltäglich ist, verstirbt die große Mehrheit der positiv auf COVID-10 Getesteten.
Egal ob Kettenbrief-Aktionen oder Bevölkerungswachstum, exponentielle Anstiege halten nur eine begrenzte Anzahl von Verdoppelungszeiten durch. Danach tritt eine Sättigung ein, die Kurven flachen ab oder reißen ab, Verdoppelungen finden gar nicht mehr statt. Bei COVID-19 sind die entscheidenden Faktoren sicher bekannt, die zu einem exponentiellen Anstieg schwerer Verläufe führen: höheres Lebensalter und schwere Vorerkrankungen. Hinfällige und Betagte, Patienten mit Erkrankungen der Lunge oder der Atemwege, Immungeschwächte, das sind die Menschen, die geschützt werden müssen, damit die Wachstumskurve der COVID-19-Intensivpatienten abreißt.
Im Umkehrschluss heißt das: Entlasst die jungen Menschen aus der Geiselhaft, gebt Spielplätze, Kindergärten und Schulen frei!
Ja, wir brauchen weiterhin Vorsicht, die Einhaltung von Hygiene und möglichst auch sozialer Distanz, vor allem im Umgang mit den Risikokollektiven. Dies darf jedoch die gesellschaftlichen Kreisläufe nicht unterbinden, Wirtschaft, Kultur, Erziehung und Bildung nicht länger strangulieren.

INKOMPETENTE LEOPOLDINA?
http://leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/publication/zum-verhaeltnis-von-medizin-und-oekonomie-im-deutschen-gesundheitssystem-2016/
Wie wären wohl die SARS-CoV-2 Virusinfektionen und die COVID-19-Erkrankungen bzw. deren Morbiditäts-bezogene Mortalität verlaufen, wenn wir heutzutage 600 Akutkliniken weniger gehabt hätten?
Geht es nicht vielleicht auch mit etwas weniger Besserwisserei, wissenschaftlichen Elfenbeintürmen und theoretisierenden Erörterungen bzw. mit etwas mehr Selbstkritik?
Mf + kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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