Politik
Debatte um Empfehlungen zum Lockdown nimmt an Fahrt auf
Dienstag, 14. April 2020
Berlin – Nach den Empfehlungen der Leopoldina, wie eine Lockerung der Maßnahmen in der Coronakrise aussehen könnte, hat die politische Debatte in Deutschland an Fahrt aufgenommen. Morgen wollen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Bundesländer damit befassen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) setzt darauf, dass Bund und Länder an einem Strang ziehen werden. Von den Beratungen erwarte er eine „einheitliche Entscheidung“, sagte Spahn heute bei einem Besuch in Gießen.
Es sei normal, dass es zunächst in der Politik – ebenso wie in der Gesellschaft – Debatten über das richtige Vorgehen in der Coronakrise gebe. Der Gesundheitsminister räumte ein, dass die Bevölkerung „mit sehr starken Einschränkungen“ konfrontiert sei, es aber auch eine „hohe Zustimmung“ zu den Maßnahmen gebe.
Mit Blick auf die derzeit recht gute Lage in den Krankenhäusern sagte Spahn, er habe lieber eine Debatte über freie Intensivbetten als die Bilder, wie es sie aus anderen Ländern gebe. Dass zu jeder Zeit ausreichend Beatmungs- und Intensivkapazitäten zur Verfügung stehen, müsse „Maßstab für jede mögliche Rückkehr in den Alltag“ sein.
Diese habe schrittweise zu erfolgen, damit „wir die Kontrolle über den Ausbruch behalten“. Zu möglichen Lockerungen im Einzelhandel sagte Spahn, wenn bestimmte Bereiche zeigten, dass diese unter Einhaltung etwa von Hygieneregeln möglich seien, könne es sicher auch gemacht werden.
Gute Grundlage
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete die Empfehlungen der Leopoldina als „exzellente Beratungsgrundlage“ für die anstehenden Entscheidungen der Bundesregierung zur möglichen Lockerung von Einschränkungen.
Man werde „die fundierte wissenschaftliche Expertise“ der Leopoldina auswerten und die Vorschläge im Kabinett und im Gespräch mit den Ländern beraten, erklärte Karliczek gestern in Berlin. Absehbar sei: „Es wird längere Zeit dauern, bis an den Schulen wieder normaler Unterricht stattfinden kann.“ Oberstes Ziel bleibe, die Ansteckungsgefahr zu reduzieren und Risikogruppen zu schützen.
Karliczek (CDU) stellte sich hinter den Vorschlag einer Mundschutzpflicht bei einer Lockerung. „Alle Vorsichtsmaßnahmen wie die Abstands- und Hygienegebote müssen weiterhin strikt eingehalten werden – und zusätzlich muss ein Mund-Nase-Schutz im öffentlichen Raum getragen werden“, sagte Karliczek der Passauer Neuen Presse. Darüber hinaus müssten in der Bevölkerung mehr Coronatests stattfinden.
Die Ministerin warnte zudem vor einem Flickenteppich beim Wiederbeginn des Schulunterrichts. „Die Länder sollten sich auf einheitliche übergeordnete Kriterien für die Schulöffnung einigen. Der Staat sollte in dieser Krise insgesamt möglichst abgestimmt vorgehen“, sagte sie.
Dazu gehörten auch Absprachen unter den Ländern. Die Bürger müssten sich an einer Linie orientieren können, unterhalb derer es Spielräume für landes- und regionenspezifische Entscheidungen geben sollte, so Karliczek. Die Frage der Schulöffnungen sei ohnehin mit die schwierigste in dem angestrebten Normalisierungsprozess.
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt etwa im Bildungsbereich, unter Gesundheits- und Hygienevoraussetzungen so bald wie möglich zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe I schrittweise zu öffnen. Auch viele weitere Teile des öffentlichen Lebens könnten schrittweise wieder normalisiert werden.
RKI hat andere epidemiologische Einschätzung
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat sich in der Debatte um mögliche Lockerungen im Wesentlichen hinter die jüngsten Empfehlungen der Nationalakademie Leopoldina gestellt. Mit Ausnahme „kleiner Details“ sehe das RKI bei der Einschätzung der Situation „keine größeren Unterschiede“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler heute in Berlin. Sie entsprächen zum großen Teil „der Erwartungshaltung“ und den bereits kursierenden Ideen.
Wieler ergänzte, sein Institut habe eine „etwas differenzierte Einschätzung“ zum Vorgehen bei Schulöffnungen. Das RKI sei der Meinung, dass es „epidemiologisch sehr viel Sinn macht“, erst ältere Schüler wieder zu unterrichten. Es sei zu erwarten, dass diese die Abstandsregeln besser einhielten.
Es gebe derzeit noch keine Hinweise darauf, dass die Coronavirus-Epidemie in Deutschland eingedämmt sei, betonte Wieler. Es sei aber gelungen, sie zu verlangsamen, vor allem durch das Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln. „Diese Disziplin sollten wir weiter beibehalten.“
Der RKI-Präsident betonte zugleich, es gebe „nach wie vor keine Blaupause“ für die aktuelle Situation und „nicht immer ein Falsch und Richtig“. Bei zahlreichen Maßnahmen lasse sich über Vor- und Nachteile diskutieren. Vieles müsse ausprobiert werden. „Diese Pandemie gab es so noch nicht“, sagte Wieler. „Aber im Großen und Ganzen enthält die Leopoldina-Stellungnahme die Maßnahmen, die man sich halt überlegen kann.“ Entscheiden müsse aber die Politik.
In ihrer Eigenschaft als Beraterin der Bundesregierung hatte die Leopoldina gestern ein Papier mit ihren Empfehlungen für die Rückkehr zur Normalität in der Coronakrise vorgelegt. Die 26 in einer Arbeitsgruppe versammelten Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen sprachen sich unter anderem für eine schnelle Wiedereröffnung von Schulen aus. Zudem empfahlen sie eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Grüne-Parteichefs für Schutzmaskenpflicht
Die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck fordern von den Bund-Länder-Beratungen eine nachvollziehbare Strategie zur Lockerung der Maßnahmen.
Nötig sei „eine jeweils am aktuellen Risiko orientierte modulare Strategie, die das Virus zielgerichteter bekämpft und eine schrittweise Lockerung von Beschränkungen mit effektivem Gesundheitsschutz verbindet“, heißt es in einem Brief an die Parteimitglieder.
Diese müsse auf transparenten Kriterien beruhen und einen klaren Fahrplan beinhalten, damit die Vorbereitungen für den Übergang beginnen könnten.
In dem heute bekannt gewordenen Schreiben erklärten Baerbock und Habeck im Namen des Bundesvorstands, der gegenwärtige Shutdown sei „nicht lange durchhaltbar, sozial nicht, ökonomisch nicht und was die Einschränkung von Bürgerrechten betrifft, ebenso nicht“. Sie verwiesen unter anderem auf einen Anstieg an häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder, psychische Probleme wie Depressionen sowie Angst vor Arbeitslosigkeit und Vereinsamung.
Daher müsse nun „eine zweite Phase der Bekämpfung“ des Virus beginnen, in der Maßnahmen gelockert werden. Priorität sollten unter anderem die „sozialen Hilfestrukturen, psychosozialen Dienstleistungen und sozialen Einrichtungen“ haben, etwa Frauenberatungsstellen und Tafeln.
Auch Geschäfte und Betriebe des Einzelhandels, „die die Möglichkeit des Abstands zwischen Menschen organisieren und garantieren können“, sollten zügig wieder geöffnet werden. An den Eingängen sollten dabei Desinfektionsmittel und Einweghandschuhe bereitgestellt werden; zudem müsse „das Tragen von Nasen-Mund-Bedeckung verpflichtend sein“.
Für Kitas und Schulen halten die Grünen-Vorsitzenden eine schrittweise Öffnung für sinnvoll. Bei der Frage, wie mit den aktuellen verschärften Grenzkontrollen weiter verfahren wird, sei ein „europäisch abgestimmter Mechanismus“ nötig.
„Liebe Freundinnen und Freunde, es wird in absehbarer Zeit keinen Zustand wie vor der Krise geben können“, heißt es in dem vorgestern datierten Schreiben. „Aber wir sollten alles daran setzen, bei Aufrechterhaltung des Gesundheitsschutzes schrittweise wieder ein öffentliches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen.“
FDP-Fraktionsvize nennt Leopoldina-Vorschläge einen Weckruf
FDP-Fraktionsvize Michael Theurer hat die Empfehlungen der Leopoldina als weiteren Weckruf für die Bundesregierung bezeichnet. Der Bericht sei auch „Startschuss für die Bundesregierung zur Entwicklung und Umsetzung eines Masterplans zum stufenweisen Wiedereinstieg in eine neue Normalität“, erklärte Theurer.
„Zudem ist es eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung wegen der immer noch fehlenden freiwilligen Corona-App und zugleich ein Appell, das schnellstens nachzuholen.“
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) betonte, niemand in der Bundesregierung sei „daran interessiert, die Maßnahmen auch nur einen Tag länger aufrecht zu erhalten als unbedingt notwendig“. Als Justizministerin werde sie darauf hinwirken, dass die Einschränkungen keinen Tag länger aufrechterhalten werden als unbedingt nötig ist, um Leben und Gesundheit zu schützen, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Das ganze Engagement der Bundesregierung sei derzeit darauf gerichtet, die durch die Coronavirus-Pandemie entstandene Krise zu bewältigen. Die Pandemie nannte die Ministerin eine „nie dagewesene Herausforderung“.
„Oberstes Gebot“ sei nun „der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung“. Dies werde auch vom Bundesverfassungsgericht gefordert. Vor diesem Hintergrund müssten „sehr schwere Entscheidungen“ getroffen werden, sagte Lambrecht. „Dabei sind verhältnismäßige Einschränkungen einiger Grundrechte nicht vermeidbar.“
Datenschützer wenden sich gegen Leopoldina-Empfehlungen
Die Empfehlungen der Nationalakademie Leopoldina stoßen aber auch auf Kritik. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar warnte zum Beispiel im Handelsblatt vor einer „Aufweichung der Datenschutzregelungen“ der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Dies sei auch in der gegenwärtigen Situation „nicht gerechtfertigt“.
„Die DSGVO sieht zum Schutz der allgemeinen Gesundheit bereits weitreichende Eingriffstatbestände vor, die insbesondere durch die nationalen Gesetzgeber ausgefüllt werden können", sagte Caspar. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae mahnte, Gesundheitsschutz und Datenschutz dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Südkorea sollte nicht unser Vorbild sein“, sagte Thomae dem Handelsblatt.
Der Erfolg einer Corona-App hänge maßgeblich davon ab, dass viele Menschen sie nutzen, ihr Handy auch ständig bei sich führen und die Technik nicht austricksen oder umgehen, sagte der FDP-Politiker. Dafür würden Akzeptanz und Vertrauen der Nutzer benötigt.
„Auch unter der derzeitigen Rechtslage wäre eine freiwillige und datenschutzkonforme Corona-App möglich, die mittels Bluetooth-Technologie Informationen anonym austauscht und die Nutzer im Falle eines Kontaktes zu einer infizierten Person benachrichtigt", sagte Thomae. Ähnlich werde dies in Singapur erfolgreich angewandt.
Die Wissenschaftler der Leopoldina hatten vorgeschlagen, auf europäischer Ebene die Datenschutzregelungen für Ausnahmesituationen zu überprüfen und gegebenenfalls „mittelfristig“ anzupassen. „Dabei sollte die Nutzung von freiwillig bereit gestellten personalisierten Daten, wie beispielsweise Bewegungsprofile (GPS-Daten) in Kombination mit Contact-Tracing in der gegenwärtigen Krisensituation ermöglicht werden.“ Als Vorbild nannten die Experten Südkorea.
Der SPD-Digitalpolitiker Jens Zimmermann riet hingegen mit Blick auf mögliche datenschutzrechtliche Änderungen, die wissenschaftlichen Empfehlungen ernst zu nehmen. „Ich finde es richtig, darüber eine mittelfristige Debatte zu führen, sagte Zimmermann dem Handelsblatt.
Kurzfristig seien die aktuell verfolgten Ansätze einer freiwilligen App, die Bluetooth nutze, sinnvoll. Wichtig sei, mit diesen Apps jetzt Erfahrung zu sammeln, so Zimmermann weiter. „Sollte sich dabei herausstellen, dass gesetzliche Änderungen notwendig werden, sollte dies auf Grundlage dieser Erfahrungswerte diskutiert werden.“
Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Ulrich Montgomery, forderte im SWR ein System, mit dem die weitere Ausbreitung des Virus beobachtet werden könne. Das sei nötig, um feststellen zu können, ob man „an der einen oder anderen Stelle wieder etwas zurücknehmen muss oder woanders etwas mehr Gas geben kann“.
Eine Rückkehr zur Normalität sei erst möglich, wenn „die Neuinfektionen und die daraus folgenden schweren Verläufe unterhalb der Kapazitätsgrenze unseres Gesundheitswesens bleiben“, so Montgomery. Der Chef des Weltärztebundes sieht die deutschen Kliniken gut gerüstet.
Söder warnt vor Überbietungswettbewerb
Bayerns Regierungschef Markus Söder hat unterdessen vor einem Überbietungswettbewerb gewarnt. „Wir brauchen einen sicheren und besonnenen Weg aus der Coronakrise“, schrieb der CSU-Politiker auf Twitter.
„Unsere Maßnahmen wirken, aber wir dürfen keinen Rückschlag riskieren.“ Vorsichtige Erleichterungen könne es nur mit zusätzlichem Schutz geben. „Es sollte kein Überbietungswettbewerb entstehen, der die Menschen verunsichert“, schrieb er. Maß und Mitte seien gefragt.
„Wir sind noch lang nicht über den Berg“, warnte Söder. Morgen werde man deshalb über ein „abgestimmtes Konzept“ reden. Daher lohne es sich, alle Argumente und Gutachten genau zu lesen und zu bewerten.
Zeit für Wachsamkeit
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat erneut zu äußerster Umsicht bei der Lockerung strenger Maßnahmen geraten. „Jetzt ist die Zeit für Wachsamkeit. Jetzt ist die Zeit sehr, sehr vorsichtig zu sein“, sagte WHO-Experte Michael Ryan in Genf.
Wer erste Schritte zurück zur Normalität gehe, müsse mehrere Bedingungen erfüllen, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Dazu gehöre nicht zuletzt die Fähigkeit, die Infizierten schnell identifizieren und isolieren zu können. Er warnte, dass sich das Coronavirus zwar schnell ausbreite, aber sehr langsam weiche. Die Menschen müssten auf absehbare Zeit ihr Verhalten ändern und soziale Distanz leben, hieß es.
Zur Frage, ob einmal Infizierte einen Schutz vor Wiederansteckung hätten, hielt sich die WHO zurück. Es gebe noch viel zu wenige Daten, um das wirklich grundsätzlich beantworten zu können. Aktuell gehe man davon aus, dass einmal Erkrankte zumindest für eine gewisse Zeit einen Schutz genießen würden. Wie lange diese Zeit sei, sei aber unklar. © dpa/afp/kna/may/aerzteblatt.de

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