Ausland
Tropenkrankheiten werden wieder vernachlässigt
Dienstag, 30. Juni 2020
Berlin – In der Pandemie verschiebt sich die Behandlung und Bekämpfung vieler Erkrankungen, gerade in den ärmsten Ländern der Welt. Dort wurde den „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ (Neglected Tropical Diseases, NTDs) seit Jahren auch mithilfe von Medikamentenspenden begegnet. Zu großen Teilen wurden diese Spenden in der London Deklaration von 2012 festgeschrieben. Doch diese Vereinbarung mit 13 internationalen Pharmaherstellern ist nun ausgelaufen.
Auf einer Konferenz in Ruandas Hauptstadt Kigali sollte sie Ende Juni 2020 verlängert werden. Doch das Treffen fiel pandemiebedingt aus. Ein Nachholtermin steht noch nicht fest. Die Kigali-Konferenz sei für die Bekämpfung der NTDs enorm wichtig gewesen, hieß es auf einer Experten-Videokonferenz des deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten (DNTDs) am 24. Juni.
Die Unternehmen müssten nun ihre Zusagen erneuern, sagte Achim Hörauf, Sprecher des DNTDs und Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Parasitologie an der Uniklinik Bonn. Freiwillige Zusagen seien gut, aber eine transparente schriftliche Vereinbarung sei besser, erklärte er im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.
Bereits im Mai hätte auf der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) die „Roadmap 2030“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Bekämpfung der NTDs beschlossen werden sollen. Sie galt als Basis für den Übergang der London Deklaration in eine Kigali Deklaration. Darin wurden, nach aufwendigen Gesprächen zwischen Regierungen, Medikamentenherstellern und Hilfsorganisationen, nächste Schritte zur weiteren Bekämpfung der NTDs festgehalten.
Die vernachlässigten Tropenkrankheiten (englisch: Neglected Tropical Diseases, NTDs) sind eine inhomogene Gruppe von rund 20 Erkrankungen, die meist die ärmsten Länder der Welt betreffen. Sie verbreiten sich dort, wo Sanitäranlagen fehlen und Menschen mit Haus- und Nutztieren eng zusammenleben, so die WHO. Neben Tollwut, Dengue Fieber und Lepra gehören unter anderem die Elephantiasis, die Flussblindheit (Onchozerkose) sowie die Bilharziose (Schistosomiasis) dazu. Weltweit sind jährlich nach WHO-Angaben mehr als eine Milliarde Menschen von NTDs betroffen. Viele von ihnen leiden aufgrund fehlender oder später Therapien an körperlichen Langzeitschäden und Behinderungen, wie beispielsweise Erblindung. Jährlich sterben zudem rund 500.000 Menschen an den Folgen, schätzt die WHO. Laut Bundesgesundheitsministerium bestehen kaum wirtschaftliche Anreize zur Entwicklung von Medikamenten oder Impfstoffe für die NTDs. HIV, Malaria und Tuberkulose sind daher nicht Teil dieser Gruppe. Sie werden in der Vergabe von Forschungsgeldern nicht „vernachlässigt“.
Hörauf beschreibt die Roadmap als Quervernetzung verschiedener Programme zur Bekämpfung unterschiedlicher Krankheiten, zur Eindämmung von Überträgerspezies (Vektoren) und zum Aufbau von Sanitäranlagen. Doch „die notwendigen Behandlungen schieben sich jetzt auf. Das könnte zu Langzeitschäden und weiteren Neuinfektionen führen“, befürchtet auch Hörauf.
Die Richtlinien der WHO hätten in vielen Ländern großes politisches Gewicht, sagte der ehemalige Vorstand des DNTDs, Martin Kollmann, auf der Videokonferenz. Geplant war, so der Augenarzt weiter, nicht zehn, sondern nunmehr 20 NTDs in die neue Kigali-Vereinbarung aufzunehmen: „Die jetzige Verzögerung ist daher umso schwerwiegender.“ Die Roadmap sei fertig, nur noch nicht verabschiedet, sagte er.
Sie sei ein „Paradigmenwechsel, hin zu ganzheitlichen, intersektoralen Ansätzen“, hob er hervor. Die Roadmap lege den Fokus stärker auf Gemeindearbeit und lokal angepasste Lösungen. Denn „Gesundheitssysteme sind umso resilienter, desto mehr lokale Verantwortung übernommen wird“, erläuterte er.
WHO pausiert Medikamentenverteilungen
Im Zuge der Pandemie habe die WHO aktuell die meisten ihrer Hilfsprogramme auf Eis gelegt, erzählte Kollmann. Beispielsweise gebe es derzeit keine Medikamentenverteilungen der WHO.
Es sei aber essenziell, dass diese Programme „zeitnah und covidsicher“ wiederaufgenommen werden, forderte er. Es müsste eher Haus-zu-Haus-Verteilungen statt Massenveranstaltungen geben. Viele lokale Bemühungen und kleine Pilotprojekte würden bereits wieder starten, so der Facharzt, der seit Jahren in Nairobi mit NTD-Patienten arbeitet.
Die Verbreitung der NTDs könnte in vielen Ländern auch als Indikator für die Entwicklung der Gesundheitssysteme genutzt werden. Das Gesundheitsministerium Nigerias zum Beispiel würde sie bereits zur Bewertung heranziehen, wo ihr Gesundheitssystem funktioniert oder wo noch nachgebessert werden muss.
Ein weiteres Problem sei, dass viele der NTD-Medikamente ein Ablaufdatum hätten, das bald anstehe, ergänzte Johannes Waltz, Leiter des Schistosomiasis Programms beim Pharmaunternehmen Merck, in dem Videogespräch. Die London Deklaration sei zwar ausgelaufen, die Beteiligten würden aber „nicht einfach aufhören“, ihre Medikamente zu spenden, meinte er: „Die NTD Spenden laufen weiter, mit oder ohne London Deklaration“.
Richtungswechsel der Entwicklungszusammenarbeit
Auch Georg Kippels (CDU), Bundestagsabgeordneter und Sprecher des parlamentarischen Beirates zur Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten und zur Stärkung der Gesundheitssysteme, war in der Videokonferenz zugeschaltet.
Seiner Meinung nach müsse es „eine Einschätzung von Land zu Land im direkten wissenschaftlichen Austausch über die Möglichkeiten der Gesundheitssysteme“ geben. Die große Herausforderung sei, herauszufinden, „wo bisherige Bemühungen bei NTDs für die Pandemie genutzt werden können“.
zum Thema
aerzteblatt.de
Aber auch in der grundsätzlichen Entwicklungszusammenarbeit müsse sich einiges ändern, sagte er: „Tatsache ist jetzt, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, dass es in Entwicklungsländern und Industrieländern getrennte Gesundheitsprobleme gibt. Es gibt einen Infektionsaustausch in alle Richtungen.“
Im Hinblick auf die bisherige Strategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) erklärte er: „Große Ereignisse fordern dazu auf, die eigene Strategie noch einmal zu hinterfragen“. Er sprach sich für eine stärkere multilaterale Zusammenarbeit und gegen den bisherigen meist bilateralen Ansatz aus.
Neue Arbeitsgruppe „Globale Gesundheit“ im BMZ
„Wir haben jetzt die ausdrückliche Bestätigung, dass ein resilientes Gesundheitssystem nicht „nice to have“, sondern essenziell ist. Darauf sattelt alles andere auf“, erklärte Kippels. Dafür brauche es eine grundlegende Reform der Entwicklungspolitik, die auch Aspekte der Gesundheitspolitik mit einbezieht, sagte er weiter. Im BMZ werde dafür gerade eine neue Arbeitsgruppe für globale Gesundheit aufgebaut.
Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) sagte bereits Ende April, es würde eine Neukonzeption der Arbeit des BMZ anstehen. Das Konzept BMZ-2030 wurde im Rahmen der Pandemie reformiert und sehe nun vor, die bilaterale Zusammenarbeit mit einigen Ländern neu zu gestalten. „In diesen Ländern stärken wir aber das Engagement privater Träger und multilateraler Institutionen“, erklärte der Minister.
Zukünftige Partnerschaften würden an die Forderung geknüpft, „messbare Fortschritte bei guter Regierungsführung, Einhaltung der Menschenrechte und der Korruptionsbekämpfung“ zu erbringen, so das BMZ Papier. Laufende Projekte würden geordnet zu Ende geführt und die humanitäre Unterstützung in Krisenfällen werde auch weiterhin in allen Ländern geleistet. © jff/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema


Leserkommentare
Um Artikel, Nachrichten oder Blogs kommentieren zu können, müssen Sie registriert sein. Sind sie bereits für den Newsletter oder den Stellenmarkt registriert, können Sie sich hier direkt anmelden.