Medizin
COVID-19: Tocilizumab könnte schwere Verläufe verhindern
Freitag, 26. Juni 2020
Modena/Italien – Mediziner an 3 Krankenhäusern in Norditalien konnten auf dem Höhepunkt der COVID-19-Epidemie 179 Patienten mit dem Antikörper Tocilizumab behandeln, der einen Zytokinsturm abschwächen soll.
Ihre jetzt in Lancet Rheumatology (2020; DOI: 10.1016/S2665-9913(20)30173-9) vorgestellten Erfahrungen liefern die bisher stärksten Hinweise auf eine Wirksamkeit des Rheuma-Biologikums.
Norditalien war in den Monaten Februar bis April das erste Epizentrum der COVID-19-Pandemie außerhalb Chinas. Die Medien berichteten damals über einen Kollaps des öffentlichen Gesundheitswesens. In Wirklichkeit konnten jedoch viele Patienten adäquat behandelt werden. An 3 Kliniken der Schwerpunktversorgung gelang des den Medizinern sogar, ein Medikament zu erproben, zu dem es damals erste vielversprechende Studienberichte aus China gab.
Das Biologikum Tocilizumab, das zur Behandlung von rheumatischen Erkrankungen zugelassen ist, neutralisiert den Rezeptor für Interleukin 6, der eine zentrale Rolle bei der Erstabwehr von Infektionen durch das Immunsystems spielt. Diese Immunreaktion kann, wenn sie zu stark ausfällt, den Organismus schädigen und das Überleben der Patienten gefährden. Ein solcher Zytokinsturm tritt auch bei Patienten mit COVID-19 auf, wenn die Infektion von den Lungen auf die Blutgefäße und andere Organe übergreift.
An den 3 Kliniken konnten zwischen dem 21. Februar und Ende April insgesamt 179 Patienten behandelt werden. Da der Wirkstoff nur begrenzt verfügbar war, war bei 365 weiteren Patienten nur eine Standardtherapie möglich.
Der Vergleich der Patienteneigenschaften zeigt, dass die Ärzte Tocilizumab bevorzugt bei schwer kranken Patienten einsetzten. Der Horovitz-Quotient (PaO2/FiO2), der den Schweregrad des Lungenversagens beschreibt, war bei den Patienten, die mit Tocilizumab behandelt wurden, bereits auf 169 mm Hg abgefallen gegenüber 277 mm Hg in der Vergleichsgruppe der Patienten, die kein Tocilizumab erhielten.
Der SOFA-Score (der das Multiorganversagen bewertet) war auf 3 gegenüber 2 in der Vergleichsgruppe angestiegen (was eine Verschlechterung anzeigt).
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Trotz der ungünstigeren Ausgangslage haben mit Tocilizumab mehr Patienten überlebt. Die Sterberate war mit 7 % (13 Patienten) nur 1/3 so hoch wie in der Vergleichsgruppe, wo 73 von 365 Patienten (20 %) starben. Der primäre Endpunkt der Studie, der neben dem Tod die Notwendigkeit einer mechanischen Beatmung umfasst, wurde in der Tocilizumab-Gruppe nach 14 Tagen von 22,6 % der Patienten und in der Vergleichsgruppe von 36,5 % erreicht.
Das Team um Cristina Mussini von der Universität in Modena ermittelt nach Berücksichtigung der unterschiedlichen Patienteneigenschaften eine adjustierte Hazard Ratio von 0,61, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 0,40 bis 0,92 signifikant war. Für den Endpunkt Tod lag die adjustierte Hazard Ratio sogar bei 0,38 (0,17 bis 0,83). Dies bedeutet, dass die Behandlung mit Tocilizumab das Sterberisiko um 2/3 gesenkt haben könnte.
Wie immer in retrospektiven Analysen sind die Zahlen mit Vorsicht zu bewerten. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass die Mediziner das Mittel bewusst oder unbewusst für Patienten reserviert haben, denen sie eine bessere Überlebenschance gegeben haben. Es bleibt abzuwarten, was die randomisierten klinischen Studien zu dieser Therapie ergeben werden. Der Einsatz von Tocilizumab wird unter anderem in der britischen RECOVERY-Studie untersucht.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Behandlung mit Tocilizumab nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen blieb. Bei 13 % der Patienten kam es zu neuen Infektionen gegenüber 4 % in der Kontrollgruppe. © rme/aerzteblatt.de

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