Medizin
Russische Forscher veröffentlichen erstmals wissenschaftliche Daten zu Sputnik-V-Impfstoff
Freitag, 4. September 2020
Moskau – Die frühe Zulassung des weltweit ersten Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 in Russland ist umstritten. Heute haben die zuständigen Wissenschaftler erstmals Ergebnisse aus nicht-randomisierten Phase-I/II-Tests publiziert: Demnach verursacht das Vakzin keine schweren Nebenwirkungen und hat bei allen 76 Probanden zur Produktion von Antikörpern geführt (The Lancet, 2020; DOI: 10.1016/S0140-6736(20)31866-3).
Der als Sputnik-V bezeichnete russische Impfstoff wurde trotz internationaler Bedenken für eine breite Anwendung in der Bevölkerung zugelassen. Die Genehmigung erfolgte noch vor der Durchführung einer großen Phase-III-Studie.
Bei dem Vakzin handelt sich um einen Vektorimpfstoff, der 2 Injektionen erfordert. Er wurde vom staatlichen Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau entwickelt. Eine Zulassung vor dem Vorliegen der Ergebnisse großer klinischer Studien der Phase III widerspricht dem international üblichen Vorgehen.
Der Impfstoff liegt in 2 Varianten vor: einer gefrorenen Formulierung, die bei -18 Grad Celsius gelagert werden muss und für die großflächige Anwendung gedacht ist (Gam-COVID-Vac), und einer gefriergetrockneten – aufwendiger herzustellenden – Formulierung (Gam-COVID-Vac-Lyo).
Letztere sei speziell für schwer zu erreichende Regionen in Russland entwickelt worden, schreiben die Autoren um Studienleiter Denis Logunov. Sie sei stabiler und könne bei 2 bis 8° Celsius aufbewahrt werden kann.
SARS-CoV-2-Impfstoff basiert auf 2 Adenoviren
Der Impfstoff enthält nicht SARS-CoV-2, sondern 2 rekombinante humane Adenovirusvektoren: Adenovirus Typ 26 (rAd26-S) und Adenovirus Typ 5 (rAd5-S).
Die beiden Viren wurden so modifiziert, dass sie das Spikeprotein von SARS-CoV-2 exprimieren. Diese Art von rekombinanten Adenovirusvektoren werde schon lange genutzt, ihre Sicherheit habe sich in zahlreichen klinischen Studien gezeigt, begründen die Autoren ihre Wahl. Tatsächlich basieren mehrere COVID-19-Impfstoffkandidaten, die sich derzeit in der Entwicklung befinden, auf solchen Vektoren.
Die gezielte Verwendung zweier verschiedener Adenovirusvektoren soll den russischen Wissenschaftlern zufolge verhindern, dass das Immunsystem eine Immunität gegen den verwendeten Vektor ausbildet. Dies würde die für eine robuste Immunantwort nötige Boosterimpfung wirkungslos machen.
Die Studien zu Gam-COVID-Vac und Gam-COVID-Vac-Lyo führten Logunov und sein Team an 2 Krankenhäusern in Russland durch. Sie waren vom Design her open-label und nicht randomisiert. Die Probanden waren gesunde Erwachsene, die sich sofort nach der Registrierung für die Studie in Selbstisolation begaben und nach der Impfung noch 28 Tage im Krankenhaus blieben.
In der Phase I der beiden Studien erhielten die Probanden nur eine Komponente des 2-Vektoren-Vakzins: 4 Gruppen von jeweils 9 Patienten wurden mit der gefrorenen oder der gefriergetrockneten rAd26-S- oder rAd5-S-Komponente geimpft.
In der Phase II – die frühestens 5 Tage nach Beginn der Phase I begann – erhielten weitere Probanden das vollständige 2-Komponenten-Vakzin (erste Impfung mit der rAd26-S-Komponente an Tag 0, gefolgt von einer Boosterimpfung mit der rAd5-S-Komponente an Tag 21). In beiden Gruppen (gefroren und gefriergetrocknet) befanden sich jeweils 20 Probanden.
Die primären Endpunkte der Studie waren die Zahl der Nebenwirkungen (Sicherheit) und die Antikörperantwort (Immunogenizität). Die Bildung neutralisierender Antikörper und die T-Zell-Response wurden als sekundäre Endpunkte ebenfalls untersucht.
Teil der Studie war zudem ein Vergleich der durch die Impfung ausgelösten Immunität mit der natürlichen Immunität durch eine Infektion mit SARS-CoV-2. Dafür verwendeten die russischen Wissenschaftler Rekonvaleszentenplasma von 4.817 Patienten, die eine leichte bis mittelschwere COVID-19-Erkrankung durchgemacht hatten.
Akzeptables Sicherheitsprofil über 42 Tage
Die Sicherheitsauswertung ergab im Verlauf der 42-tägigen Studienperiode eine allgemein gute Verträglichkeit. Am häufigsten waren Schmerzen an der Injektionsstelle (58%), erhöhte Temperatur (50%), Kopfschmerzen (42%), Asthenie (28%) und Muskel-/Gelenkschmerzen (24%).
Die meisten Nebenwirkungen seien leicht gewesen, schwere Nebenwirkungen seien nicht zu beobachten gewesen, heißt es von dem russischen Autorenteam. Sie merken an, dass diese Nebenwirkungen charakteristisch für Impfstoffe seien, speziell für solche, die auf rekombinanten viralen Vektoren basierten.
Auch die Immunogenizität des Impfstoffs konnte gezeigt werden: Alle 40 Probanden in den Phase-II-Studien bildeten Antikörper gegen das Spikeprotein von SARS-CoV-2. Für die gefrorene Variante des Impfstoffs lag der Titer an SARS-CoV-2-RBD-spezifischen IgG-Antikörpern an Tag 42 bei 14.703, für die gefriergetrocknete Variante bei 11.143.
An Tag 42 der Studie hatten auch alle Teilnehmer der Phase-II-Studien neutralisierende Antikörper gebildet; die gefrorene Variante des Impfstoffs führte zu einem IgG-Titer von 49,25, die gefriergetrocknete Variante zu einem IgG-Titer von 45,95.
Von den Teilnehmern der Phase-I-Studie, die nur rAd26-S (gefroren oder gefriergetrocknet) erhalten hatten, entwickelten dagegen nur 61 % neutralisierende Antikörper.
Der Vergleich der Antikörperantwort von Geimpften und Rekonvaleszenten ergab eine stärkere Antikörperantwort nach Impfung. Der Level an SARS-CoV-2-neutralisierenden Antikörpern sei dagegen bei Geimpften und Rekonvaleszenten vergleichbar gewesen, berichten die russischen Wissenschaftler.
Vakzin löst auch Bildung von T-Zellen aus
In den beiden Phase-II-Studien entwickelten alle Probanden innerhalb von 28 Tagen eine T-Zell-Antwort – inklusive CD4-T-Helferzellen und CD8-T-Killerzellen. Die Zahl der T-Helferzellen stieg nach der Impfung mit der gefrorenen Variante um 2,5 % an und die Zahl der T-Killerzellen um 1,3 % (mit der gefriergetrockneten Variante waren es 1,3 bzw. 1,1 %).
Die Autoren berichten, dass die Probanden zwar auch neutralisierende Antikörper gegen die Adenovirusvektoren gebildet hätten, die Antikörperantwort auf das Spikeprotein von SARS-CoV-2 habe das aber nicht beeinflusst. Auch gegenseitig hätten sich die neutralisierenden Antikörper gegen rAd26 und rAd5 nicht beeinträchtigt.
Dies deute darauf hin, dass die Verwendung zweier verschiedener Adenovirusvektoren eine Möglichkeit sei, eine robuste Immunreaktion hervorzurufen und die Immunreaktion auf den ersten viralen Vektor zu überwinden. Allerdings sei weitere Forschung nötig, um dies zu bestätigen, räumen sie ein.
Die Autoren selbst merken auch an, dass die Interpretation der Studienergebnisse durch die geringe Teilnehmerzahl und die kurze Nachverfolgung limitiert sei. Darüber hinaus hätten an einigen Teilen der Phase-I-Studien nur Männer teilgenommen und es habe weder ein Placebo noch ein Kontrollvakzin gegeben.
Und trotz der Bemühungen bis zu einem Alter von 60 Jahren zu rekrutieren, setzte sich die Studienpopulation vorwiegend aus jungen Freiwilligen in den 20ern oder 30ern zusammen.
Phase-III-Studie unmittelbar vor dem Start
Um den Impfstoff in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu untersuchen, seien weitere Forschungsarbeiten erforderlich, schreiben Logunov und seine Kollegen. Die Tests der Phase III – die 40.000 Teilnehmer unterschiedlicher Alters- und Risikogruppen umfassen sollen – haben mittlerweile begonnen.
Dem Institut zufolge sollen sie mindestens 6 Monate dauern. Die ersten Freiwilligen in der Hauptstadt Moskau sollen ab nächster Woche geimpft werden.
In einem Kommentar zu der Veröffentlichung der russischen Wissenschaftler schreibt der Infektionsmediziner Naor Bar-Zeev vom International Vaccine Access Center (IVAC) der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore, dass die Studien aus Russland ebenso wie andere Phase-I/II-Studien vor ihnen „ermutigend, aber klein“ seien: „Die Immunogenizität ist ein gutes Zeichen, lässt aber keine Rückschlüsse auf Menschen höheren Alters zu.“ (DOI: 10.1016/S0140-6736(20)31867-5).
Zudem sei die Sicherheit bei COVID-19-Vakzinenen oberstes Gebot – nicht nur für die Akzeptanz einer Impfung gegen SARS-CoV-2, sondern allgemein für das Vertrauen in Impfungen. „Die bisherigen Sicherheitsdaten sind beruhigend, aber bislang sind alle Studien zu klein, um weniger häufige oder seltene Nebenwirkungen zeigen zu können“, ergänzt er.
Bar-Zeev betont, dass eine Zulassung von einem bewiesenen kurz- und langfristigen Schutz vor der Erkrankung abhängen sollte und nicht nur von der Immunogenizität der Impfung – und darüber hinaus von vollständigeren Sicherheitsdaten. Diese Daten ließen sich letztlich nur aus groß angelegten Phase-III-Studien ziehen. © nec/aerzteblatt.de

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