Medizin
COVID-19: Bioethikerin warnt vor „Flut an potenziell minderwertiger Forschung“
Freitag, 2. Oktober 2020
Esch an der Alzette – Mehr als 30 wissenschaftliche Studien zu COVID-19 mussten nach ihrer Veröffentlichung mittlerweile wieder zurückgezogen werden – oder sahen sich zumindest ernsthaften Zweifeln ausgesetzt.
Die Bioethikerin Katrina A. Bramstedt warnt im Journal of Medical Ethics vor „einer Flut an potenziell minderwertiger Forschung“ und den „Auswirkungen für die Patienten, die Ärzte und potenziell auch die politischen Entscheidungsträger“ (DOI: 10.1136/medethics-2020-106494).
1.221 Studien zu COVID-19 verzeichnete das Studienregister ClinicalTrials.gov. bereits Anfang Mai. Fachjournals können nur einen Bruchteil der Einreichungen veröffentlichen. In der Folge werden viele Studien ungeprüft auf Preprint-Servern veröffentlicht. Seit dem Ausbruch von SARS-CoV-2 seien dies auf den vier wichtigsten Servern mehr als 4.000 gewesen, so Bramstedt.
Diese übermäßige Eile habe Folgen für die Qualität und die Integrität der Forschung, schreibt die außerplanmäßige Professorin an der Bond University School of Medicine, Australien, und Generalsekretärin der Luxemburger Agentur für Forschungsintegrität.
Von den betroffenen Studien waren demnach 19 in Fachjournals erschienen – auch in renommierten Publikationen wie The Lancet und dem New England Journal of Medicine. 14 Studien waren auf Preprint-Servern veröffentlicht worden. Mehr als die Hälfte dieser Veröffentlichungen stammen aus Asien, vorwiegend aus China.
Doch Bramstedt betont: „Keine Forschungsgruppe ist von dem Druck und der Geschwindigkeit, die derzeit in der COVID-19-Forschung herrschen, ausgenommen. Und das kann die Gefahr ehrlicher Fehler, aber auch absichtlichen Fehlverhaltens erhöhen.“
Die Gründe für die Widerrufe der Veröffentlichungen waren vielfältig: Datenfälschung, methodische Probleme, Zweifel an der Interpretation der Daten und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen, aber auch Urheberprobleme und Datenschutzverstöße wurden den Autoren zum Verhängnis.
Ehrliche Fehler und absichtliches Fehlverhalten
Und selbst wenn die beteiligten Forscher sich kein absichtliches Fehlverhalten zuschulden kommen ließen, auch ehrliche Fehler werden bestraft: „Die Evidenz deutet darauf hin, dass in solchen Fällen die Zitierungshäufigkeit der Autoren um acht bis neun Prozent einbrechen kann.“
Ganz zu schwiegen von den möglichen Konsequenzen für die Patienten: „Patienten können einen signifikanten, dauerhaften und irreversiblen Schaden davontragen, wenn ihrer Behandlung fehlerhafte Forschungsergebnisse zugrunde gelegt werden“, so Bramstedt.
Das hektische Publizieren lasse nicht ausreichend Zeit für Qualitätskontrollen durch die Forscher selbst, aber auch ihre Vorgesetzten, ebenso wenig wie für eine gründliche Überprüfung von Studienanträgen durch die zuständigen Ethikkomitees, moniert die Bioethikerin.
Und auch die Fachjournale seien auf eine „Armee von Peer-Reviewern“ angewiesen, die dieser Tätigkeit auf freiwilliger Basis nachgingen und auch noch Zeit für ihren eigentlichen Job aufbringen müssten.
Zur Lösung dieser Probleme schlägt Bramstedt vor, die Einreichungsverfahren für wissenschaftliche Publikationen effizienter zu gestalten und eine Fortbildung in Forschungsethik und -integrität für alle Wissenschaftler verpflichtend zu machen.
Jegliche Verstöße gegen Regeln und Standards sollten Bramstedt zufolge spürbare Konsequenzen nach sich ziehen, um wiederholten Verfehlungen entgegenzuwirken. Bramstedt betont, dass Forschungsergebnisse heute oft jedermann zugänglich seien und von den Entscheidungsträgern wie etwa Regierungen genutzt würden, „deshalb müssen die Daten robust sein“. © nec/aerzteblatt.de

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