Medizin
COVID-19: Beteiligung der Neuroglia könnte häufige neurologische Symptome erklären
Dienstag, 6. Oktober 2020
Hamburg und Chicago – Das Coronavirus SARS-CoV-2 kann das Gehirn erreichen, wo es laut Obduktionsbefunden in Lancet Neurology (2020; DOI: 10.1016/S1474-4422(20)30308-2) eine Immunreaktion auslöst, die möglicherweise die neurologischen Symptome erklären, die in einer Studie in den Annals of Clinical and Translational Neurology (2020; DOI: 10.1002/acn3.51210) bei 4 von 5 Patienten dokumentiert wurden.
Während Grippeviren und die meisten anderen Erreger von Atemwegserkrankungen auf die Lungen beschränkt bleiben, kann sich SARS-CoV-2 im Körper ausbreiten. Zu den infizierten Organen muss nach den neuropathologischen Untersuchungen von Patienten, die an COVID-19 gestorben waren, auch das Gehirn gezählt werden.
Ein Team um Markus Glatzel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) konnte die Viren bei 21 von 40 Patienten (53 %) nachweisen. Dies geschah einmal mit der Polymerase-Kettenreaktion, die die Virusgene in den Hirnzellen aufspürt. Zum anderen konnten die Forscher die Viren selbst mit Antikörpern gegen Kapsel- und Spike-Proteine in den Gewebeschnitten sichtbar machen.
Die Viren wurden vor allem in der Medulla oblongata und in den Hirnnerven gefunden (was zu der interessanten Vermutung führt, dass die Viren möglicherweise über die Nervenzellen ins Gehirn eindringen). Die Infektion der Neuronen scheint jedoch nicht die wichtigste Veränderung zu sein. Die Virusmengen waren laut der Studie sehr gering und ihre Verteilung passte nicht zu den Symptomen der Patienten vor dem Tod.
Auffällig war, dass bei allen Patienten die Astrozyten vermehrt waren. Die Forscher konnten in einer „In-silico“-Analyse recherchieren, dass die Oligodendrozyten, die wie die Astrozyten zur Neuroglia gehören, in größerer Menge ACE-2-Protein bilden, über das SARS-CoV-2 an den Zellen andockt. In den Nervenzellen werden auch die Proteasen TMPRSS2 und TMPRSS4 gebildet, die zum Eindringen in die Zellen benötigt werden.
Die Aktivierung von Mikroglia und eine vermehrte Infiltration durch zytotoxische T-Lymphozyten sowie eine Infiltration von meningealen zytotoxischen T-Lymphozyten deuten laut Prof. Glatzel darauf hin, dass eine entzündliche Reaktion an der Entstehung der neurologischen Symptome beteiligt sein könnte.
Eine Analyse der ersten 509 Patienten, die in diesem Frühjahr an den Kliniken der Northwestern Universität behandelt wurden, bestätigt die häufige Beteiligung des Gehirns an COVID-19: 37,7 % der Patienten litten unter Kopfschmerzen, 31,8 % unter einer Enzephalopathie, 29,7 % unter Schwindel, 15,9 % unter Geschmacksstörungen und 11,4 % unter Geruchsstörungen.
Auch die Muskelschmerzen, die bei 44,8 % in den Krankenakten notiert wurden, könnten nach Einschätzung von Igor Koralnik von der Feinberg School of Medicine in Chicago neurologische Ursachen gehabt haben. Bei 82 % der Patienten trat im Verlauf der Erkrankung wenigstens ein neurologisches Symptom auf, bei 42 % gehörten sie sogar zu den Erstsymptomen.
Die Enzephalopathie, die mit Störungen der mentalen Funktionen von einer leichten Verwirrung bis zum Koma einhergeht, war laut Koralnik die schwerste neurologische Manifestation von COVID-19.
Die Störungen hielten häufig über den Krankenhausaufenthalt hinaus an. Insgesamt 89,3 % der Patienten mit einer Enzephalopathie konnten sich bei der Entlassung nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, verglichen mit 32,1 % der Patienten, die keine Enzephalopathie entwickelt hatten.
Auch die Mortalität war bei den Patienten mit Enzephalopathie mit 21,7 % im Vergleich zu 3,2 % bei den Patienten ohne Enzephalopathie erhöht. © rme/aerzteblatt.de

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