Ärzteschaft
E-Mental-Health: Experten sehen digitale Anwendungen reif für die Praxis
Freitag, 9. Oktober 2020
Berlin – Digitale Anwendungen haben seit Beginn der COVID-19-Pandemie vor allem in der Versorgung psychisch kranker Menschen einen Schub bekommen. Mit Hilfe von Videotherapie konnte während des Lockdowns die Versorgung in den Praxen aufrechterhalten werden – eine Möglichkeit, die viele Psychotherapeuten und Patienten schätzen gelernt haben.
Mehr Skepsis gibt es zwar von der Basis in Bezug auf die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die Ärzte und Psychotherapeuten seit kurzem verordnen können. Die Möglichkeiten, die sie bieten wurden jedoch als hoch angesehen.
Das wurde bei der Veranstaltung „E-Mental-Health: gemeinsam weiterdenken“ deutlich, bei der Experten aus Praxis, Wissenschaft und Wirtschaft gestern und heute digital diskutierten. Veranstaltet wurde das Webinar von Health Capital/Cluster Gesundheitswirtschaft Berlin/Brandenburg.
BfArM hat erste digitale Anwendungen zertifiziert
„Die Hoffnungen sind groß“, sagte Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts (ZI) für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Er wies auf die ersten beiden überprüften DiGA hin, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gerade am 6. Oktober in sein neues Verzeichnis aufgenommen: neben der App „Kalmeda“ für Patienten mit chronischer Tinnitusbelastung ist dort die Webanwendung „Velibra“ zur Unterstützung von Patienten mit Symptomen bestimmter Angststörungen zu finden.
Eine Umfrage des Zentralinstituts habe gezeigt, dass gerade junge Menschen zwischen 16- und 25 Jahren besonders aufgeschlossen seien gegenüber digitalen Anwendungen, aber auch Ältere zeigten Offenheit, berichtete der Psychiater. Die Nutzung über Smartphones spiele dabei eine immer größere Rolle.
Bei Ärzten und Psychotherapeuten sei das Thema DiGA bisher noch nicht angekommen. Bedenken gebe es in Bezug auf die Datensicherheit, die Usability und die Befürchtung, dass nicht alle Patienten über die notwendige technische Ausstattung beziehungsweise die Kenntnisse verfügten.
Patienten nicht mit digitalen Anwendungen allein lassen
Geklärt werden müsse in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie Patienten aufgefangen würden, wenn sie mit oder durch eine DiGA in eine psychische Krise gerieten, gab Gebhard Hentschel, Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) zu bedenken.
„Wir finden es schwierig, die Patienten mit den Anwendungen allein zu lassen“, sagte er. Grundsätzlich sieht er bei seiner Berufsgruppe eine große Bereitschaft sich in Bezug auf digitale Anwendungen fortzubilden. Er gab aber auch zu bedenken, dass in der Praxis oftmals sehr wenig Zeit sei, sich damit auseinanderzusetzen.
Das Hindernis Zeitmangel für die Implementierung in die Praxis sprach auch Kurt Schnell, Asklepius Fachklinikum und Universitätsmedizin Göttingen an: „Wir sehen in Klinik und Praxis eine unglaubliche Informationsdichte und die Pflicht, alles zu dokumentieren. Da bleibt kaum Zeit“, sagte der Arzt. Aktuell gebe es zudem wenig Anreize DiGA zu verordnen.
ZI-Direktor Meyer-Lindenberg hält für die Vertrauensbildung an der Basis den Zertifizierungsprozess des BfArM für sehr wichtig. Denn es gebe eine „unüberschaubare Anzahl an Apps in den Stores ohne Evidenz“.
Das BfArM prüft, ob eine DiGA die Anforderungen an Sicherheit und Funktionstauglichkeit, Datenschutz und Informationssicherheit sowie Qualität und insbesondere Interoperabilität erfüllt. Der Hersteller muss außerdem den Nachweis für die mit der DiGA realisierbaren positiven Versorgungseffekte beibringen.
„Für die Usability der DiGA ist es auch sehr wichtig, dass die Entwickler mit den Zielgruppen in Kommunikation treten“, betonte Meyer-Lindenberg. Psychisch Kranke und als besondere Zielgruppe auch Jugendliche müssten bei der Programmierung mit einbezogen werden.
Künstliche Intelligenz als große Chance für die Psychiatrie
Darüber hinaus sieht der ZI-Direktor vor allem die Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz (KI) als „dramatische Chance für die Psychiatrie“ an. KI simuliere die menschliche Intelligenz und könne Hilfestellungen liefern in Bezug auf personalisierte Therapie.
Er wies darauf hin, dass aktuell bei Twitter, Instagram und Facebook mithilfe der KI eine kontinuierliche Suizidüberwachung stattfinde. Wie solch ein Suizidalalgorithmus funktioniere sei jedoch nicht transparent.
Der Oberarzt am Zentrum für Integrative Psychiatrie der Universität Lübeck, Jan Philipp Klein, stellte den Nutzen digitaler Anwendungen für psychisch kranke Menschen heraus, die die Angebote der Regelversorgung nicht nutzen wollen.
„Wir erreichen mit den gegenwärtigen Methoden nur die Hälfte der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Viele wollen mit ihrer Erkrankung alleine zurechtkommen, die sollten wir auffangen“, sagte er.
Selbstmanagementinterventionen oder DiGA seien gleich wirksam wie Face-to-face-Therapien, dann wenn zusätzlicher E-Mail-Support angeboten werde, erklärte Klein. Weniger wirksam seien die Anwendungen allerdings bei denjenigen, die ihnen skeptisch gegenüberstehen. Seiner Meinung nach sind digitale Anwendungen bei psychischen Erkrankungen „reif für die Aufnahme in den Arbeitsalltag“ von Ärzten und Psychotherapeuten.
Auf die Bedeutung der Diagnostik für Patienten, denen eine DIGA verordnet werden soll, wies Iris Hauth, Chefärztin des Alexianer St. Joseph Krankenhaus Berlin-Weißensee, hin. Der Arzt oder Psychotherapeut müsse prüfen, ob die Anwendung für das Störungsbild geeignet sei. Davon abgesehen sei aber „gerade jetzt in Coronazeiten der persönliche Kontakt zum Therapeuten für psychisch kranke Menschen besonders wichtig“, betonte die Psychiaterin. © PB/aerzteblatt.de

Wie verordne ich eine DiGA

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