Medizin
Adipositas: Neuroinflammation im Suchtzentrum des Gehirns führt bei Kindern zur Gewichtszunahme
Donnerstag, 29. Oktober 2020
New Haven/Connecticut – Kann Essen bei Kindern zur Sucht werden? Eine Studie in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS 2020; DOI: 10.1073/pnas.2007918117) deutet darauf hin: Kinder, bei denen mit einer neuen Variante der Magnetresonanztomografie eine vermehrte Zelldichte im Nucleus accumbens, einem Zentrum des „Belohnungssystems“ im Gehirn, nachgewiesen wurde, hatten ein Jahr später besonders stark an Gewicht zugelegt.
Auch bei Kindern gerät das Essverhalten immer häufiger außer Kontrolle. Die Zahl der Kinder mit einer krankhaften Adipositas hat sich in den letzten Jahrzehnten vervierfacht. Verantwortlich gemacht wird die breite Auswahl an preisgünstigen Nahrungsmitteln mit einer hohen Kaloriendichte.
Kinder sind besonders anfällig gegenüber den Versuchungen der süßen und fettigen Nahrungsmittel. Wenn es erst einmal zu einer Adipositas gekommen ist, kommt eine Ernährungsumstellung meist zu spät. Das Essverhalten weist dann Zeichen einer Sucht auf. Das Verlangen nach den Nahrungsmitteln übersteigt bei weitem den Appetit.
Hirnforscher verorten die Sucht im Belohnungssystem des Gehirns. Es ist im mesolimbischen System des Gehirns lokalisiert und hier vor allem im Nucleus accumbens. Frühere tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass eine Ernährung mit einem hohen Gehalt an gesättigten Fetten hier eine Entzündungsreaktion, die Neuroinflammation, auslöst, die mit einem Anstieg der Zelldichte verbunden ist.
Am lebenden Menschen lässt sich eine Neuroinflammation nicht direkt untersuchen, da die Entnahme von Biopsien ethisch nicht zu rechtfertigen ist. Die Zelldichte lässt sich jedoch indirekt mit einer neuen Variante der Magnetresonanztomografie (MRT) abschätzen, die ohne Strahlung auskommt und deshalb als unschädlich eingestuft wird.
Die MRT kommt deshalb in der ABCD-Studie („Adolescent Brain Cognitive Development“) zum Einsatz, die derzeit an 21 Zentren in den USA fast 12.000 Kinder und Jugendliche in den USA begleitet. Bei 5.366 Teilnehmern war im Alter von 9 bis 10 Jahren eine MRT durchgeführt worden.
Mit einem neuen Verfahren, der Restriktionsspektrum-Bildgebung („restriction spectrum imaging“, RSI) lässt sich die Zelldichte im Gewebe bestimmen. Im MRT können die Diffusionsbewegungen von Wassermolekülen bestimmt werden. Zellmembranen bilden hier Barrieren, die die Diffusion einschränken.
Mit zunehmender Zelldichte steigt die Zahl der Zellmembranen, und die Einschränkung der Diffusion nimmt zu. Die RSI ermöglicht eine genaue Messung, da sie zwischen extrazellulären und intrazellulären Wasserbewegungen unterscheiden kann.
Die Untersuchungen zeigen nun, dass die Ergebnisse der RSI-Messungen mit der Entwicklung des Bauchumfangs bei den 2.133 Kindern korrelierte, die nach einem Jahr an einer Nachuntersuchung teilnahmen. Der größte Einfluss wurde im paarig angelegten Nucleus accumbens gefunden. Kinder mit der größten Zunahme des Bauchumfangs zeigten hier die stärksten Veränderungen im RSI.
Die Ergebnisse beweisen zwar nicht, dass es bei den Kindern wie in den Tierexperimenten zu einer Neuroinflammation kommt. Sie liefern jedoch klare Hinweise auf eine Beteiligung des Belohnungssystems. Sie erklären, warum die Behandlung der Adipositas bei Kindern so schwierig ist.
Die exzessive Gewichtszunahme könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Neuroinflammation im Nucleus accumbens, die durch die vermehrte Nahrungszufuhr ausgelöst wird, einen sich selbst verstärkenden Kreislauf auslöst, der auch in der weiteren Entwicklung schwer zu durchbrechen ist. Studien haben gezeigt, dass übergewichtige Kinder ein mehr als 5-fach erhöhtes Risiko haben, im Erwachsenenalter fettleibig zu werden. © rme/aerzteblatt.de

Nachrichten zum Thema


Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.