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Medizin

COVID-19: Wenig Evidenz für Tocilizumab in randomisierten Studien trotz positiver Erfahrungsberichte

Donnerstag, 22. Oktober 2020

/felipecaparros, stock.adobe.com

Boston, Paris und Reggio Emilia – Der Nutzen des Antikörpers Tocilizumab, der den Zytokinsturm bei COVID-19-Patienten aufhalten soll, ist weiter unklar. Aktuell finden 3 randomisierte Studie in JAMA Internal Medicine (2020; DOI: 10.1001/jamainternmed.2020.6615 und 6820) und im New England Journal of Medicine (2020; DOI: 10.1056/NEJMoa2028836) keine sicheren Hinweise auf eine Verbesserung der Prognose bei mittelschwer bis schwer erkrankten Patienten.

US-Intensivmediziner berichten dagegen in JAMA Internal Medicine (2020; DOI: 10.1001/jamainternmed.2020.6252) über ihre positive Erfahrungen mit dem frühzeitigen Einsatz.

Dexamethason ist derzeit das einzige Medikament, das die Prognose von Patienten mit COVID-19 in einer randomisierten klinischen Studie (RECOVERY) verbessert hat. Das Steroid kann die überschießende Entzündung stoppen, es hat jedoch eine breite immun­supprimierende Wirkung, die bei COVID-19 möglicherweise über das Ziel hinausschießt. Eine gezieltere Behandlung könnte durch die Blockade von Interleukin 6 erreicht werden.

Der monoklonale Antikörper Tocilizumab könnte diesen Zytokinsturm stoppen. Das Mittel wurde zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis und der Riesenzellarteriitis entwickelt. Es wird jedoch auch erfolgreich eingesetzt, um überschießende Immunreaktionen zu bremsen. Bei der CAR-T-Zell-Therapie hat es sich zur Behandlung eines Zytokin-Frei­setzungs-Syndrom (CRS) bewährt.

Da es bei COVID-19 häufig zu einem starken Anstieg von Interleukin 6 kommt, gilt Tocili­zumab hier als mögliche Therapieoption. An vielen US-Kliniken ist die Behandlung mitt­lerweile zu einem Therapiestandard geworden, auch wenn die Behandlung wegen feh­lender Zulassung „off label“ erfolgt und die Fachgesellschaft Infectious Disease Society of America (IDSA) wegen eines fehlenden Wirkungsnachweises außerhalb von klinischen Studien vom Einsatz von Tocilizumab abrät.

Von den 3.924 Patienten an 68 US-Kliniken, die sich am STOP-COVID-Register beteiligen, sind 433 (11,0 Prozent) innerhalb der ersten 2 Tage nach der Überweisung auf die Inten­siv­­station mit Tocilizumab behandelt worden. Ein Team um David Leaf vom Brigham and Women’s Hospital in Boston hat die Erfahrungen jetzt mit einer Gruppe von 3.492 Patienten verglichen. Diese Patienten wurden ausgesucht, weil sie in einer „Inverse probability weighting“ die gleichen Patienteneigenschaften hatten, was einen fairen Vergleich ermöglichen soll.

Nach den jetzt veröffentlichten Ergebnissen sind in der Tocilizumabgruppe nach 27 Tagen 125 von 433 Patienten gestorben, was eine Case-Fatality-Rate von 28,9 % ergab. In der Vergleichsgruppe sind 1.419 von 3.492 Patienten (40,6 %) gestorben. Leaf ermittelt eine Hazard Ratio von 0,71, die mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 0,56 bis 0,92 signifi­kant war. Die geschätzten 30-Tage-Mortalitäten betrugen 27,5 versus 37,1 %.

Auch hier war die Differenz von 9,6 Prozentpunkten mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 3,1 bis 16,0 % signifikant. Nach einer Subgruppen-Analyse erzielten Patienten, deren Erkrankung besonders rasch voranschritt (Symptombeginn weniger als 3 Tage vor Auf­nahme auf die Intensivstation) die größten Vorteile. Das Sterberisiko wurde hier um fast 60 % gesenkt (Hazard Ratio 0,41; 0,23 bis 0,74).

Es ist nicht ungewöhnlich, dass in retrospektiven Analysen bessere Ergebnisse erzielt werden als in randomisierten Studien (was ein wenig mit der menschlichen Neigung zusammenhängen mag, gute Ergebnisse zu melden und schlechte unter den Tisch fallen zu lassen). Dies könnte auch beim Einsatz von Tocilizumab bei COVID-19 der Fall sein. In den bisherigen randomisierten Studien konnte kein eindeutiger Vorteil belegt werden.

In den beiden vom Hersteller initiierten Studien COVACTA und EMPACTA mit 450 und 38 Teilnehmern konnte Tocilizumab die 28-Tage-Sterberate der Patienten nicht senken. In COVACTA verkürzte Tocilizumab zwar die Behandlungszeiten im Krankenhaus, alle anderen sekundären Ergebnisse waren jedoch negativ.

In der EMPACTA-Studie konnte Tocilizumab nur den Anteil der Patienten senken, die beatmet werden mussten oder bis zum 28. Tag starben (12,2 % versus 19,3 %. Die Ergebnisse in den sekundären Endpunkten waren jedoch durchweg negativ und die Gesamtmortalität mit 10,4 % versus 8,6 % sogar tendenziell erhöht. Die Ergebnisse der beiden Studien wurden bisher nur in Pressemitteilungen des Herstellers bekanntgegeben. Die Publikation steht noch aus.

Auch in drei von Ärzten initiierten Studien aus den USA, Italien und Frankreich konnte Tocilizumab nicht überzeugen. Das „Boston Area COVID-19 Consortium" (BACC) hat während der ersten Erkrankungswelle zwischen dem 20. April und dem 15. Juni an 6 Kliniken 243 Patienten im Verhältnis 2:1 auf eine Behandlung mit Tocilizumab oder Placebo randomisiert. Die meisten Patienten befanden sich zu Beginn der Behandlung noch nicht auf einer Intensivstation, erhielten aber über eine Nasensonde Sauerstoff, weil die Sauerstoffsättigung auf unter 92 % abgefallen war.

Bei den Patienten bestand eine starke Entzündungsreaktion. Viele hatten eine erhöhte Körpertemperatur von über 38°C und das C-reaktive Protein war median auf 110 mg/l angestiegen (Normalwert unter 5 mg/l). Eine Konzentration des Interleukin 6 von median 24,4 pg/ml deutete auf einen Zytokinsturm hin. Die einmalige intravenöse Gabe von Tocilizumab in der Dosis von 8 mg pro Kilogramm sollte die Patienten vor einer mecha­nischen Beatmung oder den Tod (primärer Endpunkt) schützen, doch die jetzt von John Stone, Massachusetts General Hospital in Boston mitgeteilten Ergebnisse stützen diese Hypothese nicht.

Der primäre Endpunkt trat in den ersten 28 Tagen in der Tocilizumabgruppe bei 17 von 161 Patienten (10,6 %) auf gegenüber 10 von 82 Patienten (12,5 %) in der Placebogruppe. Dies ergab eine Hazard Ratio von 0,83, die mit einem weiten 95-%-Konfidenzintervall von 0,38 bis 1,81 das Signifikanzniveau verpasste.

Der Anteil der Patienten, bei denen es bis zum 14. Tag zu einer klinischen Verbesserung kam, war mit 18,0 % in der Tocilizumabgruppe sogar tendenziell höher als in der Place­bo­­­­gruppe mit einer Verschlechterung bei 14,9 % der Patienten (Hazard Ratio 1,11; 059 bis 2,10).

Die mediane Zeit bis zum Absetzen von zusätzlichem Sauerstoff war mit 5,0 versus 4,9 Tagen gleich. Auch beim Sauerstoffbedarf nach 14 Tagen (24,6 versus 21,2 Prozent) gab es keine wesentlichen Unterschiede. Die Studie kann aufgrund der geringen Teilnehmerzahl weder einen Nutzen oder einen Schaden ausschließen, schreibt Stone. Eine durchschlagende Wirkung von Tocilizumab sähe jedoch anders aus.

In der RCT-TCZ-COVID-19-Studie waren zwischen dem 31. März und dem 11. Juni an 24 Kliniken in Italien 126 Patienten mit COVID-19 auf eine Behandlung mit Tocilizumab oder eine alleinige Standardtherapie randomisiert worden. Nachdem 3 Patienten zurückge­zogen wurden, konnten Carlo Salvarani und Mitarbeiter vom Servizio sanitario dell’Emi­lia-Romagna in Reggio Emilia die Ergebnisse von 123 Patienten auswerten. Der primäre Endpunkt war eine mechanische Beatmung auf der Intensivstation innerhalb von 14 Tagen.

Dies wurde in der Tocilizumabgruppe bei 17 von 60 Patienten (28,3 %) erforderlich gegenüber 17 von 63 Patienten (27,0 %) in der Kontrollgruppe. Der Unterschied war mit einer Rate Ratio von 1,05 (0,59 bis 1,86) nicht signifikant. Die Studie wurde wegen der fehlenden Aussicht auf einen Erfolg nach einer Zwischenauswertung vorzeitig abge­brochen.

In der CORIMUNO-19-Studie wurden 131 Patienten, die mindestens 3 Liter Sauerstoff pro Stunde benötigten aber noch nicht beatmet wurden, auf eine Behandlung mit Tocili­zumab oder auf eine Standardbehandlung randomisiert. Die Studie hatte 2 primäre Endpunkte.

Der erste war der Anteil der Patienten, die in den ersten 4 Tagen starben oder mecha­nisch beatmet werden mussten. Er wurde laut den von Olivier Hermine von Hôpital Necker in Paris und Mitarbeitern mitgeteilten Ergebnissen durch Tocilizumab von 28 auf 19 % gesenkt. Die Differenz war allerdings auch bei einem 90-%-Konfidenzintervall nicht signifikant.

Der zweite primäre Endpunkt war der Anteil der Patienten, die bis zum 14. Tag ohne Beatmung (invasiv oder nicht-invasiv) auskamen. Auch hier kam es unter der Tocilizumab­gruppe zu einer Besserung (24 versus 36 %), die das Signifikanzniveau ebenfalls nicht erreichte. Hinzu kommt, dass die Sterberate in beiden Gruppen mit 11 beziehungsweise 12 % gleich (niedrig) war.

Die 3 Studien schaffen keine evidenzbasierte Grundlage für den Einsatz von Tocilizumab. Endgültige Gewissheit ist von laufenden Studien zu erwarten, zu denen neben der öffent­lich geförderten RECOVERY-Studie (NCT04381936) auch die Hersteller-gesponserten Studien CORON-ACT (NCT04335071), MARIPOSA (NCT04363736) und REMDACTA (NCT04409262) gehören.

Da Tocilizumab sich in den bisherigen Studien als gut verträglich erwiesen und keine schweren Komplikationen auftraten, dürften viele Kliniken in der Zwischenzeit weiter auf den Einsatz von Tocilizumab setzen. © rme/aerzteblatt.de

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