Politik
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen häufig unbeachtet
Dienstag, 17. November 2020
Berlin – Zwischen Frauen und Männern bestehen Unterschiede bezüglich der Morbidität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese münden oft in einer ebenfalls unterschiedlichen Mortalität.
„Wenn Frauen einen Herzinfarkt erleiden, sterben sie häufiger daran“, betonte heute Heidrun Thaiss, Leiterin der die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), bei der 4. Bundeskonferenz Frauengesundheit in Berlin, die sich als digitale Veranstaltung dem Thema „Herz-Kreislauf-Gesundheit bei Frauen“ widmete. Zudem dauere es länger, bis Frauen mit einem Herzinfarkt notfallmäßig ins Krankenhaus kämen.
Der vor wenigen Tagen veröffentlichte aktuelle Deutsche Herzbericht zeigt zwar, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei beiden Geschlechtern in Deutschland immer noch die häufigste Todesursache sind, offenbart aber auch diverse Diskrepanzen.
„Wir wissen, dass sich Frauen und Männer hinsichtlich Diagnostik und Behandlung der koronaren Herzkrankheit und der Herzinsuffizienz unterscheiden“, sagte Sabine Weiss, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit (BMG), heute bei der Bundeskonferenz, die gemeinsam von BMG und BZgA veranstaltet wurde.
Für die Herzgesundheit von Frauen spielt neben der Gesundheitsversorgung auch die Gesundheitsförderung eine besondere Rolle. Wichtig erscheint Thaiss insbesondere die Aufklärung. „Vielen Frauen ist ihr gar Erkrankungsrisiko nicht bewusst – und das wollen wir ändern“, sagte die BZgA-Leiterin weiter.
Gute Informationen können Erkrankungen vorbeugen
Je genauer Frauen über Herz-Kreislauf-Erkrankungen informiert seien, umso besser könnten sie Erkrankungen vorbeugen und mögliche Krankheitsanzeichen richtig einordnen. „Durch den Lebensstil kann das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 50 Prozent gesenkt werden. Das ist ein großes Potenzial.“
Die Gründerin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité, Vera Regitz-Zagrosek, bedauerte in ihrem Vortrag auf der Bundeskonferenz heute, dass medizinisches Wissen, Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten in Deutschland immer noch sehr „geschlechterneutral“ gelehrt und im klinischen Alltag angewendet würden. Dabei zeigten viele Studien, dass „Frauen anders sein können“. So würden Frauen beispielsweise einen Herzinfarkt anders wahrnehmen.
Von „untypischen Symptomen“ möchte die Kardiologie jedoch nicht sprechen. Übelkeit, Erbrechen, Atemnot und Schmerzen im Oberbauch oder im Schulter-, Rücken- und Unterkieferbereich seien typisch bei einem Herzinfarkt bei Frauen.
Die Folgen dieser Unkenntnis – auch bei Ärzten und Rettungskräften – sei fatal: So hätte die MEDA-Studie 2017 ergeben, dass es bei über 65-jährigen Frauen mit Herzinfarktsymptomen bis zu viereinhalb Stunden dauerte, bis sie in der Notaufnahme waren. Bei gleichaltrigen Männern verging etwa eine Stunde weniger.
Geschlechtsunterschiede auch bei der bildgebenden Diagnostik
Geschlechtsunterschiede gibt es aber auch bei der bildgebenden Diagnostik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Krankenhaus: So ließen sich bei Frauen mit stabiler Angina Pectoris angiografisch seltener Obstruktionen der epikardialen Gefäße nachweisen, erläuterte Regitz-Zagrosek. Herzkranzgefäße bei Frauen hätten aber häufiger eine Tendenz sich zu verkrampfen. Zudem würden bei ihnen spontane Koronardissektionen vermehrt auftreten, vor allem bei Frauen zwischen 45 und 60 Jahren.
Trotz der Unterscheide bezüglich der Mechanismen der Entstehung und der Ausprägung der Koronaren Herzerkrankung bei Frauen und Männern erhielten beide Geschlechter die gleiche Arzneimittelbehandlung, bemängelte die Kardiologin weiter.
Viele Frauen würden auf diese Weise überdosiert. „Häufig reichen bei Frauen 40 Prozent der Dosis, um den gleichen Effekt zu erzielen“, sagte sie. So habe es sich in einer Post-Hoc-Analyse gezeigt, dass die Sterblichkeit bei Herzinsuffizienz unter Digitalis-Behandlung bei Frauen größer als bei Männern ist.
Grundsätzlich sollten deshalb vor allem bei kleinen, älteren Frauen die Nierenfunktion überprüft werden und die Konsequenzen einer reduzierten renalen Elimination von Pharmaka bedacht werden. „Die Dosierungsangaben in Leitlinien orientieren sich meist an Männern“, so die Ärztin.
Häufige Nebenwirkungen von Arzneimitteln könnten auf relative Überdosierung dieser Substanzen zurückgeführt werden. Ein großes Manko sei jedoch, dass derzeit nur zwölf Prozent der Zulassungsstudien Nebenwirkungen nach dem Geschlecht aufschlüsselten. „Das muss sich ändern.“
Diabetes mellitus, Vorhofflimmern, Schwangerschaftshochdruck, (Prae)eklampsie, Eierstockentfernung, Frühgeburten und vorzeitige Menopause sind Regitz-Zagrosek zufolge frauenspezifische Risikofaktoren, die aber als solche noch zu wenig bekannt seien. Auch der Einfluss der soziokulturellen Dimension Gender werde noch unterschätzt.
Gendermedizin systemischer unterstützen
Gender beeinflusse über Lebensbedingungen und Interaktionen der Umwelt den Organismus und den Krankheitsverlauf, aber auch das Verhalten in der Prävention, so die Kardiologin. Universitäten, Forschung, Politik und Verbände müssten die Gendermedizin systemischer unterstützen, forderte sie.
Sabine Weiss, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, wies in diesem Zusammenhang auf die Ressortforschung des Bundes hin. Unter dem Schwerpunkt „Berücksichtigung spezifischer Besonderheiten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung“ würden über einen Zeitraum von drei Jahren einzelne Vorhaben gefördert, die geschlechtsbedingte gesundheitliche Ungleichheiten identifizieren und die Qualität der Versorgungsangebote verbessern sollen. Ergebnisse erwarte man 2023. © ER/aerzteblatt.de

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