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Politik

Grüne stellen Weichen für Homöopathie, Sterbehilfe und Reproduktionsmedizin

Montag, 23. November 2020

Robert Habeck, Bundesvorsitzender der Grünen, beim digitalen Bundesparteitag /picture alliance, Kay Nietfeld

Berlin – Die Grünen haben in ihrem langwierigen Streit um die Homöopathie eine Lö­sung gefunden. Der digitale Bundesparteitag billigte gestern eine Formulierung, derzu­folge nur noch Leistungen von Krankenkassen übernommen werden sollten, „die medizi­nisch sinnvoll und gerechtfertigt sind und deren Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist“.

Damit gehen die Grünen auf Distanz zu Homöopathie als Kassenleistung – auch wenn die umstrittene Heilmethode in dem Text nicht ausdrücklich genannt wird. Eine noch weitergehende Formulierung, derzufolge Leistungen, deren Wirksamkeit über den Place­boeffekt hinaus nicht wissenschaftlich bewiesen sei, explizit als Kassenleistung ausge­schlossen werden sollten, fand aber keine Mehrheit.

Auch einen Änderungsantrag der Homöopathiebefürworter, der eine Kostenübernahme ermöglichen sollte, lehnten die Delegierten ab. Die Grünen hatten seit längerem intensiv und kontrovers über diese Frage diskutiert. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sprach vor der Abstimmung von einem „nicht ganz einfachen Prozess“.

In der Debatte um die Sterbehilfe haben sich die Grünen für ein „selbstbestimmtes Ster­ben frei von Druck“ ausgesprochen. Auf dem Parteitag votierten 648 von 708 Delegierten für den Zusatz im neuen Grundsatzprogramm, den der Bundes­vor­stand eingebracht hatte. „Das Recht auf selbstbestimmtes Leben schließt – nach den Vorgaben des Bundesver­fassungsgerichts – selbstbestimmtes Sterben frei von Druck ein.“

Im Februar hatte das Bundesverfassungsgericht das vom Bundestag 2015 beschlossene Verbot der organisierten Suizidbeihilfe für verfassungswidrig erklärt. Die Richter formu­lier­ten gleichzeitig ein weit reichendes Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Es schlie­­ße die Freiheit ein, auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Sterbehilfever­eine stellen dafür etwa tödliche Medikamente zur Verfügung. Tötung auf Verlangen ist in Deutschland aber weiter strafbar.

Die Grünen betonen, dass zu einem Leben in Würde auch ein Sterben in Würde gehöre, und verlangen eine bedarfsgerechte Palliativversorgung und genügend Hospizplätze, die auch auf die Bedürfnisse der Sterbenden eingestellt sind.

Schwangerschaftsabbrüche legalisieren

In der Frage von Schwangerschaftsabbrüchen bekräftigt das neue Grundsatzprogramm die Forderung nach einer Legalisierung. Zum Recht auf Selbstbestimmung „zählen auch selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche, die nichts im Strafgesetzbuch verloren ha­ben“, heißt es im entsprechenden Passus. Um die reproduktive Selbstbestimmung zu ge­währleisten müsse es kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln und die Sicherstellung von ärztlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen geben.

Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben müsse auch für Frauen, Mädchen, Trans-, Inter- und nicht binäre Menschen uneingeschränkt gel­ten, heißt es weiter. Dieses Recht zu realisieren, sei Teil einer guten öffentlichen Gesund­heitsversorgung. Demnach sollen Menschen mit einer nicht binären Geschlechtsidentität ausschließlich selbst das Recht haben, ihr Geschlecht zu definieren.

Ein Antrag, der unter Verweis auf die Gefahr irreversibler Eingriffe etwa für Jugendliche in der Pubertät für eine Streichung dieses Satzes plädierte, wurde deutlich überstimmt. Im Namen der Geschlechtervielfalt fordert das Grundsatzprogramm allgemein, das jeder ge­mäß der eigenen sexuellen Orientierung die Lebensform, die Partnerschaft und das Fami­lienmodell selbst wählen kann und dafür jeweils die gleichen Rechte und den gleichen Schutz vom Staat zu erhalten habe.

Auf dem Parteitag haben sich die Grünen auch für die Beibehaltung eines strengen Em­bry­onenschutzes ausgesprochen. Im medizinischen Bereich stellten sich ethische Fragen nach den Grenzen des Handelns ganz besonders, vor allem dort, wo durch Veränderun­gen des Erbguts auch das Leben künftiger Generationen betroffen sei, heißt es nun im Grund­satzprogramm. Deshalb sollten auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn ausge­schlossen werden.

Klärung bei Reproduktionsmedizin

Mit Blick auf die Reproduktionsmedizin verweist das Grundsatzprogramm zugleich auf „die Möglichkeit zur selbstbestimmten Elternschaft“. Dabei müssten Frauen „frei von pa­tri­archaler Bevormundung und ökonomischem Druck entscheiden können, ob und welche Möglichkeiten sie in Anspruch nehmen“, betont das neue Grundsatzprogramm. Dabei benötigten alle Kinder „einen klaren Rechtsstatus“.

Bei Medikamenten und Impfstoffen, die etwa der Bekämpfung von Pandemien dienen und durch Patente geschützt sind, müsse es aus Sicht der Grünen kostengünstige Lizen­zen geben. Das geltende System der Fallpauschalen müsse um eine strukturelle Finanzie­rung der Krankenhäuser ergänzt werden. Arbeitsbedingungen in der Pflege sollen verbes­s­ert und mehr Personal eingestellt werden.

Als Zugeständnis an Klimaaktivisten bekennen sich die Grünen in ihrem neuen Programm klarer zur 1,5-Grad-Grenze beim Anstieg der Erderwärmung. Es sei notwendig, „auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen“, steht nun in dem Grundsatzprogramm. Im Entwurf des Partei­vorstands hatte es ursprünglich geheißen, gemäß dem Pariser Klimaabkommen solle die Erderhitzung „auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden“.

Die Umweltaktivistin Luisa Neubauer von „Fridays for Future“ begrüßte die Änderung. Die Grünen hätten auf den „Druck von breiten gesellschaftlichen Bündnissen“ reagiert, twit­terte sie. Im Grundsatzprogramm bekräftigen die Grünen zudem die Forderung nach 100 Prozent erneuerbaren Energien, verbunden mit dem Ausstieg aus allen fossilen Ressour­cen.

Die Landwirtschaft soll ökologisch umgebaut werden, im öffentlichen Verkehr soll die Schiene gestärkt sowie mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger geschaffen werden.
Auch eine Kontroverse über die Gentechnik wurde beigelegt: Die Grünen sehen deren Einsatz in der Landwirtschaft skeptisch, erteilen ihr aber auch keine komplette Absage.

Parteichef Robert Habeck sagte, die alte Gentechnik habe ihre Versprechen nicht einge­löst, allerdings sollte die Forschung zu neuen Verfahren in diesem Bereich nicht ausge­schlossen werden.

Das Hartz-IV-System soll den Grünen zufolge künftig durch eine Garantiesicherung, die bei Bedürftigkeit ohne Vorbedingungen gewährt wird, überwunden werden. Langfristig wollen die Grünen die Sozialleistungen zusammenfassen und in das Steuersystem inte­grieren. Gegen den Willen der Parteiführung sprachen sich die Delegierten perspektivisch für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus, das allen Mitgliedern der Gesellschaft in­dividuell und ohne Bedürftigkeitsprüfung zusteht.

Denkbar knapp scheiterten die Befürworter bundesweiter Volksabstimmungen auf dem Parteitag. Der unter anderem von Bundesgeschäftsführer Michael Kellner vorgestellte An­trag erhielt 46,36 Prozent der Delegiertenstimmen. Der Vorschlag des Bundesvor­stands, statt bundesweiten Volksentscheiden Bürgerräte zu etablieren, setzte sich knapp mit 51,48 Prozent durch.

Das ins Grundsatzprogramm aufgenommene Modell der Bürgerräte sieht vor, dass bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von Bürgern in die Gesetzgebung einfließt. Dafür sollen Bürger per Los ausgewählt werden. Auch Anträge zur Absenkung des Wahl­alters auf unter 16 Jahre setzten sich auf dem Parteitag nicht durch. Beschlossen wurde der Vorschlag des Bundesvorstands, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken.

Das neue Grundsatzprogramm der Grünen soll die Partei fit machen für das bevorste­hen­de Wahljahr 2021. Damit will sich die Partei breiteren Wählerschichten öffnen. Es ist das vierte Programm der 40-jährigen Geschichte der Grünen. © dpa/afp/kna/aerzteblatt.de

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