Medizin
Multiple Sklerose: B-Zellen aus dem Darm könnten Abheilung der Läsionen in Gehirn fördern
Mittwoch, 2. Dezember 2020
Basel – Abwehrzellen, die im Darm Bakterien in Schach halten, können offenbar über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen. Forscher haben die IgA-produzierenden B-Zellen jetzt in den Läsionen der Multiplen Sklerose nachgewiesen. Sie vermuten in Science Immunology (2020; DOI: 10.1126/sciimmunol.abc7191), dass die Immunzellen aus dem Darm dem Gehirn helfen, die Autoimmunattacke zu beenden.
In den letzten Jahren wurde bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) eine merkwürdige Verbindung zwischen dem Darm und dem Gehirn entdeckt. MS-Patienten haben häufig eine gestörte Darmflora, deren Übertragung bei Mäusen eine experimentelle autoimmune Enzephalitis auslösen kann, die der Erkrankung beim Menschen entspricht.
Woraus diese Darm-Hirn-Achse besteht, war bisher unklar. Immunologen vermuteten jedoch, dass die Kommunikation über die Immunzellen erfolgt. Ein Team um Anne-Katrin Pröbstel von der Universität Basel hat das Bindeglied jetzt näher eingegrenzt. Es handelt sich um IgA-produzierende B-Zellen, die aus dem Darm ins Gehirn gelangen.
Wie in allen Schleimhäuten erfolgt die Immunabwehr im Darm mit IgA-Antikörpern. Sie werden von speziellen B-Zellen gebildet. In der Schleimhaut binden sie potenzielle Krankheitserreger und verhindern deren Eintritt ins Blut. Die IgA-Antikörper erkennen bestimmte Strukturen auf der Oberfläche von Bakterien und anderen Keimen. Da Patienten mit MS häufig andere Bakterien im Darm haben als Gesunde, haben sie auch andere IgA-Antikörper.
Es war bekannt, dass die IgA-produzierenden B-Zellen, kurz IgA-B-Zellen, auch im Blut auftauchen. Das Forscherteam um Pröbstel kann jetzt zeigen, dass die IgA-B-Zellen bei MS-Patienten das Gehirn erreichen und sich dort ausgerechnet in den MS-Läsionen anreichern. Bei MS-Patienten wurden die IgA-B-Zellen im Liquor nachgewiesen. Bei Verstorbenen fanden die Forscher sie auch in den akuten Entzündungsherden im Gehirn.
Eine naheliegende Vermutung wäre, dass die IgA-B-Zellen an den Attacken des Immunsystems beteiligt sind. Dafür fanden die Forscher jedoch keine Hinweise. Sie vermuten im Gegenteil, dass die B-Zellen einen entzündungshemmenden Botenstoff ausschütten könnten. Vielleicht helfen sie dem Körper sogar dabei, den Angriff auf die Myelinscheiden der Nervenzellen zu beenden.
Tatsache ist, dass sich die meisten MS-Patienten nach einem Krankheitsschub wieder erholen (wenn auch nicht immer vollständig, weshalb die Behinderungen von Schub zu Schub fortschreiten). Nach einem Krankheitsschub sind die IgA-B-Zellen wieder aus dem Gehirn verschwunden.
Was genau die IgA-B-Zellen bewegt, im Krankheitsschub den Darm zu verlassen und als Helfer gegen MS aktiv zu werden, ist unklar. Die Ergebnisse könnten jedoch erklären, warum vor einigen Jahren ein vielversprechender Behandlungsansatz gescheitert ist.
Der Wirkstoff Atacicept, der B-Zellen aus dem Blut beseitigt, war in einer Phase 2-Studie an Patienten mit MS erprobt worden. Die Erwartung war, dass mit der Beseitigung der B-Zellen der Angriff auf die Myelinscheiden gestoppt werden könnte. Stattdessen kam es zu einer Verstärkung der Autoimmunerkrankung. Die im Lancet Neurology (2014; DOI: 1474-4422(14)70028-61) vorgestellten Ergebnisse führten damals zum Abbruch der klinischen Entwicklung von Atacicept.
Jetzt hoffen die Forscher, dass ihre Entdeckung zu ganz anderen Behandlungsansätzen führt. Das Ziel müsste nicht die Beseitigung, sondern eine Verstärkung der IgA-B-Zellen aus dem Darm sein. Denkbar wäre es laut Pröbstel, die Zusammensetzung der Darmflora von Betroffenen gezielt zu verändern, um die IgA-B-Zellen als Helfer gegen die Entzündungen im Nervensystem zu mobilisieren. © rme/aerzteblatt.de
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