Medizin
Wissenschaftler fordern niedrige Fallzahlen als gemeinsames Ziel für Europa
Samstag, 19. Dezember 2020
Berlin – Die Regierungen in Europa sollten sich im Umgang mit der SARS-CoV-2-Pandemie auf ein gemeinsames Ziel verpflichten und dieses durch eine synchronisierte Eindämmungsstrategie erreichen. Das fordern 20 Wissenschaftler und Fachleute aus Virologie, Epidemiologie, Modellierung und Ökonomie in einem im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichten Positionspapier (DOI: 10.1016/S0140-6736(20)32625-8).
„Das Virus stoppt nicht an unseren Grenzen, die Pandemie ist ein gesamteuropäisches Problem“, erklärte Viola Priesemann, Leiterin der Forschungsgruppe Theorie neuronaler Systeme am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und Koordinatorin sowie Autorin des Positionspapiers. Ein Maximum von zehn Neuinfektionen pro einer Million Einwohner pro Tag sollte daher erklärtes Ziel in ganz Europa werden. Umgerechnet auf die in Deutschland gängige Einheit der Inzidenz wären das sieben Fälle pro 100.000 Einwohner pro Woche.
Zu schaffen sei dies nur mit einer synchronisierten Eindämmungsstrategie. Denn: Aktuell liegt die Inzidenz laut den Daten der WHO in Deutschland bei circa 180 mit steigendem Trend, bei circa 340 für die Schweiz bei steigendem Trend und für Österreich bei unter 220, nach zwischenzeitlichen Höchstständen knapp unter 600.
Pingpong-Spiel erneuter Einschleppungen muss vermieden werden
Selbst wenn ein Land weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung ergreift, das Nachbarland aber nicht, droht ein Pingpong-Spiel erneuter Einschleppungen. Niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern würden den Autorinnen und Autoren nach Vorteile auf mehrere Ebenen mit sich bringen: die wirtschaftliche wie psychologische Lage der Gesellschaft könnte sich entspannen und eine effektive Kontaktverfolgung wäre wieder möglich.
Es liegt überwältigende wissenschaftliche Evidenz dafür vor, dass nicht nur für die öffentliche Gesundheit, sondern auch für die Gesellschaften und Volkswirtschaften niedrige COVID-19 Fallzahlen von großem Nutzen sind, heißt es in dem Positionspapier.
„Wir müssen aufhören von Herdenimmunität zu reden, wenn es um natürliche Erkrankungen geht“, betonte Barbara Prainsack, Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Mitglied der European Group on Ethics and New Technologies, bei der virtuellen Pressekonferenz. Das sei sehr gefährlich.
Nur niedrige Fallzahlen haben Vorteile
„Wir sehen als Wissenschaftler nur Vorteile in niedrigen Fallzahlen. Hohe Fallzahlen haben keine Vorteile“, bestätigte Priesemann und warnte: Bei der Vorstellung, dass es mehr Freiheiten mit sich bringe, wenn man hohe Fallzahlen in Kauf nehme, handele es sich um ein Missverständnis. Nur niedrige Fallzahlen würden letztlich mehr Freiheiten bedeuten.
Die Autoren um Priesemann, und Hunderte weitere Unterzeichner des Positionspapiers, schlagen deshalb eine gesamteuropäische Strategie, die zum Ziel hat, rasch niedrige Fallzahlen zu erreichen. Anzustreben sind demnach maximal zehn neue COVID-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag.
Dieses Ziel sei in vielen Ländern erreicht worden und könne in ganz Europa spätestens im Frühjahr wieder erreicht werden. Dafür seien aber „tiefgreifende Interventionen“ erforderlich. „Einen Lockdown light haben wir versucht, das hat nicht funktioniert“, so Priesemann.
Nur strenge Einschränkungen führen ans Ziel
„Wir brauchen das gesamte Maßnahmenbündel mit strengen Einschränkungen“, ergänzte Prainsack. Gemeint sind die Nutzung von Home Office, geschlossene Schulen und Kitas, und damit die Möglichkeit die Auslastung des öffentlichen Personennahverkehrs zu reduzieren, aber auch die Schließung von Restaurants und des Einzelhandels. „Wir müssen jeden Kontakt so weit wie möglich einschränken, um dem Virus den Weg abzuschneiden“, so Priesemann.
Dieses Vorgehen habe sich als effizient erwiesen, heißt es in dem Positionspapier. Es stelle das rasche Erreichen niedriger Fallzahlen bei kurzdauernder Belastung von Psyche und Volkswirtschaft sicher.
Um die erneute Einschleppung von SARS-CoV-2-Infektionen in Länder, die bereits niedrige Fallzahlen erreicht haben, zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen.
Dabei sei es entscheidend, das Ziel und den Vorteil von niedrigen Fallzahlen klar zu kommunizieren, um die Mitwirkung der Öffentlichkeit zu sichern.
Was getan werden muss, wenn das Ziel erreicht ist
Ist das Ziel einer niedrigen Fallzahl erreicht, könnten die Einschränkungen unter sorgfältiger Überwachung gelockert werden. Um ein niedriges Level auch langfristig halten zu können, seien ausreichend Testkapazitäten von minimal 300 Tests pro Tag pro einer Million Einwohner notwendig.
Auf lokale Ausbrüche müsse schnell und rigoros reagiert werden, mit Reisebeschränkungen, gezielten Tests und möglicherweise regionalen Absperrungen, bis die Zielvorgabe wieder erreicht ist.
„Die aktuelle Situation ist keine, mit der wir über Monate weitermachen können“, betonte Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität Genf. Sie bezog sich dabei sowohl auf die Überlastung von Krankenhäusern als auch die begrenzten Kapazitäten von Laboren. „Wir können zwar aufstocken, aber mit einem exponentiellen Wachstum können wir nicht mithalten.“
Und Priesemann warnte davor, zu viel Hoffnung auf die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zu setzen: „Der Impfstoff wird uns in den nächsten Monaten auch nicht retten“, sagte sie. Die Autoren des Positionspapiers gehen davon aus, dass Impfstoffe helfen werden, das Virus unter Kontrolle zu bringen, doch damit sei nicht vor Ende 2021 zu rechnen.
„Wenn wir nicht jetzt entschlossen handeln, ist mit weiteren Infektionswellen zu rechnen, und als Konsequenz mit weiteren Schäden für Gesundheit, Gesellschaft, Arbeitsplätze und Betriebe“, so die Autoren. Angesichts offener Grenzen könne jedoch kein Land allein die Infektionszahlen niedrig halten, daher seien gerade gemeinsame Ziele und gemeinsames Handeln essenziell. © nec/aerzteblatt.de

Lesen Sie nur die Hälfte @penangexpag?
Man muss schon etwas "panikinfiziert" sein, oder davon nicht betroffen, um es vorbehaltlos richtig zu finden.
Und was Sie mit "Eine gewisse Härte ist von zu Hause mitzubringen - na ihr werdet es schon noch lernen." meinen, müssen Sie bitte noch mal erklären, bevor ich dies falsch interpretiere.

Zeitpunkt undWille
Anmerkung : Großmütterliche Gefühle sind nicht unwichtig - stehen aber in solchen Krisenzeiten nicht an vorderster Stelle.
"Eine gewisse Härte ist von zuhause mitzubringen" - na, ihr werdet es schon noch lernen.

@penangexpag
eine Grenzschließung ist völliger Unfug. Ob ich eine "innerdeutsche" Landesgrenze überquere und von Sachsen nach Thüring. fahre, oder von Sachsen nach Polen, bitte ... welchen Unterschied gibt es da?
Am Rechner sitzend, aus dem Home Office würde mir sowas sicher auch als Idee kommen, auch als Politiker -"beruflich" heute da und morgen dort, kann man so etwas gut finden. Könnte ja klappen ...
Spätestens beim ersten Nachdenken muss auffallen, um eine Grenze zu schließen dürfte es keinen Warentransport geben, keine Ausnahmen für Arbeitn. usw.
Wer bitte kann denn noch völlig problemlos "über die Grenze"?
Mein Bruder lebt mit seiner Frau und den Kindern in London. Die Kinder haben die deutschen Großeltern dieses Jahr 1 x gesehen, die schwed. Ģroßeltern gar nicht, da Schwed. ja auch im Sommer "unter Beschuß" stand. Sie hatten sich noch vor wenigen Wochen fest vorgenommen, irgendwie Weihnachten in Schwed. zu verbringen (mit Test oder wie auch immer), was sich nun ja wieder erledigt hat. Denn alles ist schlimmer, als je zuvor. Obwohl es heute genau so ist, wie vor 1 Woche. Das gehört zur Wahrheit einfach mal dazu.
Als ich gestern kurz den Fernseher anhatte, dachte ich, ich höre nicht Recht. Wie ist es möglich, dass vor 1 Woche hier im DÄ über eine gef. Mutat. berichtet wird und 5 Tage später - für Unwissende "quasi sofort" alles dicht gemacht wird? Als ich den Artikel noch mal raussuchte und dann auch noch an anderer Stelle gelesen habe, dass diese "schlimmere Variante" seit September schon bekannt war ... was soll ich sagen: schnelle Einsatztruppe.
Wenn ich diese völlig neuen Erkenntnisse dann am 4. Advent, ganz kurz vor der Impfung öffentlich präsentiere ... besser geht nicht, oder?
Sind Sie denn wirklich der Meinung, man könne "den Virus" mal eben so vor die Tür schicken ... bisschen warten, bis er keine Lust mehr hat zum spielen?
Ich bin froh, dass in meiner Familie alle noch einen klaren Kopf haben und normal miteinander umgehen. Meine Eltern würden ihre Kinder und Enkel aus London auch heute -ohne Test- sofort empfangen.

Einsicht
Genau so ist es - und wer wollte konnte genau das an den zeitlich-örtlichen Gradienten der Inzidenzverteilung in Deutschland in den letzten Wochen/Monaten sehen. Man mag es den politischen Entscheidungsträgern nicht einfach vorwerfen, daß sie das nicht zur Grundlage ihrer Entscheidungen gemacht haben. Denn Grenzschließungen sind eine sehr drastische Maßnahme - zu der ein Wille zur Tat gehört, der leider nicht vorhanden war. Dazu hätte eben eine gesamteuropäische Einsicht gehört, die es nicht gab. Wenn Vorwurf, dann an alle europäischen Regierungen/Parlamente. Durch die neue Situation,von England ausgehend , sollte es jetzt aber kein Vertun mehr geben. Jedenfalls erwartet man das von der deutschen Regierung - zumal Deutschland derzeit die Führungsrolle in Europa hat.

Ein emotionaler Blick ins Herz auf Folgen der Corona-Maßnahmen
>>> https://www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/nach-corona-ausbruch-im-pflegeheim-neun-bewohner-des-margarete-blarer-hauses-sind-verstorben;art372448,10694722

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