Medizin
Wie SARS-CoV-2 Großbritannien eroberte
Montag, 11. Januar 2021
Oxford – Die 1. Welle von COVID-19, die in Großbritannien heftiger ausfiel als in den meisten anderen Ländern, wurde nicht von einer einzelnen importierten Infektion ausgelöst. Eine Analyse der Genomdaten von SARS-CoV-2 in Science (2021; DOI: 10.1126/science.abf2946) zeigt, dass vor dem Lockdown Ende März vermutlich mehr als tausend Personen das Virus eingeschleppt haben.
Kein Land führt so viele Genomanalysen von SARS-CoV-2 durch wie Großbritannien. Von den 50.887 Genomsequenzen, die bis zum 26. Juni auf der Plattform GISAID veröffentlicht wurden, stammten 26.181, also mehr als die Hälfte, vom „COG-UK Consortium“. Das entspricht 9,29 % aller bestätigten Fälle im Land und nach Schätzungen eines Teams um Oliver Pybus von der Universität Oxford 0,6 % aller Infektionen bis zum 5. Mai.
Da sich das Genom der Viren seit der ersten Infektionen in Wuhan durch Mutationen verändert hat, lassen sich die Infektionswege rekonstruieren. Die britischen Forscher konnten die Infektionen in dem Inselstaat auf 1.179 einzelne Importe zurückführen, wobei es sich nur um eine ungefähre Angabe mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 1.143 bis 1.286 handelt, da ja nur ein kleiner Teil der Genome sequenziert wurde und eine komplette Ermittlung der Infektionswege weit außerhalb der Möglichkeiten der Analyse liegt. Von den bekannten Genomen konnten auch nicht alle einer Übertragungsreihe zugeordnet werden, so dass die tatsächliche Zahl der importierten Infektionen höher liegen könnte.
Die meisten importierten Fälle haben nur wenige Erkrankungen ausgelöst. Andere haben sich schnell ausgebreitet. Pybus schätzt, dass nur 8 Importe für mehr als 25 % der Infektionen verantwortlich waren. Diese 8 Importe ereigneten sich vor dem 23. März, als Großbritannien den Lockdown verkündete und die Flughäfen geschlossen wurden.
Ein Vergleich zu den Genomen aus anderen Ländern ergab, dass 33 % der Viren aus Spanien, 29 % aus Frankreich und 12 % aus Italien eingeschleppt wurden. Auf China entfielen nur 0,4 % der Importe.
Die meisten Erstinfektionen im Land ereigneten sich vermutlich in Hertfordshire, Greater London und Essex. Dort war die genetische Vielfalt der Viren hoch, die die Forscher mit dem Shannon-Index beschreiben. Die 3 Gegenden zeichnen sich durch einen hohen Pendlerverkehr nach London und die Nähe zu wichtigen internationalen Flughäfen aus.
Die wenigsten Erstinfektionen gab es in abgelegenen Regionen Schottlands (Stirling, Aberdeenshire, Inverclyde). Dort lag der Shannon-Index deutlich niedriger. Es gab Importe, die eine deutliche Breitenwirkung erzielten: Mehr als 50 % der Genome der Linie DTA_13 wurden in einem Umkreis von mehr als 234 km gefunden. Und es gab eng umgrenzte Ausbrüche wie DTA_290: Hier wurden mehr als 95 % der Genome weniger als 100 km voneinander entfernt gefunden.
Nach den Berechnungen von Pybus entfielen mehr als 80 % der importierten Fälle auf den Zeitraum vom 27. Februar bis zum 30. März. Ein früherer Lockdown hätte demnach das Ausmaß hinauszögern können. Die britische Regierung hatte anfangs lange gezögert und gehofft, die vulnerablen Bevölkerungsgruppen ohne Einschränkungen des Wirtschaftslebens schützen zu können.
Im Ergebnis hat dies zu einem besonders schweren Verlauf der Epidemie beigetragen. Bis zum 26. Juni starben 40.453 Briten nachweislich an COVID-19.
Nach der Analyse von Pybus haben die von den frühen Importen ausgelösten Ausbrüche den Gegenmaßnahmen länger widerstanden. Derzeit werde untersucht, welchen Anteil die früheren Importe an der 2. Welle haben. Sollten sich die Vermutungen von Pybus bestätigen, dann könnten die Auswirkungen des späten Lockdowns noch immer zu spüren sein. © rme/aerzteblatt.de

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