Politik
„Die erzielbaren Einsparungen sind durch einen wesentlichen Konstruktionsfehler begrenzt“
Donnerstag, 28. Januar 2021
Berlin – Seit Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) vor zehn Jahren müssen die pharmazeutischen Unternehmen den Zusatznutzen eines neuen Arzneimittels im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie nachweisen.
Grundlage dafür ist die frühe Nutzenbewertung, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) vornimmt. Im Anschluss daran verhandelt der Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband den Preis, den die Kranken-kassen ab dem zweiten Jahr nach Marktzugang bezahlen.
Anlässlich des zehnjährigen AMNOG-Bestehens hat das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) Vertreter der drei beteiligten Akteure dazu befragt, wie sie das Verfahren heute bewerten. Die Leiterin der Abteilung Arzneimittel und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband, Antje Haas, erklärt, welche gesetzlichen Änderungen das Verfahren geschwächt haben und was sie sich von der neuen anwendungsbegleitenden Datenerhebung verspricht.
Fünf Fragen an Antje Haas, Leiterin der Abteilung Arzneimittel und Heilmittel beim GKV-Spitzenverband
DÄ: Am 1. Januar dieses Jahres hat sich das Inkrafttreten des AMNOG zum zehnten Mal gejährt. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Antje Haas: In einem innovativen, sich kontinuierlich verändernden Umfeld erfordert die Bewertung und Erstattung von Arzneimitteln ein dynamisches System, um seinem Anspruch an Zu-gangsgerechtigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung und Kosteneffektivität des Gesundheitssystems auch in Zukunft gerecht zu werden.
Positiv ist aus unserer Sicht insbesondere, dass die notwendige Transparenz des AMNOG-Verfahrens und seiner Ergebnisse, inklusive der neuen Preise, trotz gegenläufiger politischer Initiativen der Industrie, unangetastet geblieben ist.
Uneingeschränkt zu begrüßen ist darüber hinaus, dass nunmehr nahezu alle Arzneimittel für neuartige Therapien, kurz ATMPs, wie beispielsweise Gentherapien dem AMNOG-Verfahren unterliegen. Der G-BA erhielt zudem die Ermächtigung, die Qualität der Anwendung dieser Produkte sektorenübergreifend durch geeignete Anforderungen zu sichern.
Positiv ist, dass Verfahrensschlupflöcher, zum Beispiel durch nicht rechtzeitig oder unvollständig eingereichte Dossiers, durch monetäre Sanktionierung grundsätzlich geschlossen wurden.
Außerdem begrüßen wir, dass die Einführung neuer Preisgestaltungmöglichkeiten bei den Erstattungsbetragsverhandlungen, wie die Berücksichtigung mengenbezogener Aspekte, mehr Flexibilität in die Verhandlungen gebracht hat.
Darüber hinaus gibt es noch weitere begrüßenswerte Regelungen, die aktuell allerdings in ihrer Wirkung beschränkt sind.
DÄ: Welche meinen Sie?
Haas: Dazu zählt zum Beispiel die Einführung des sogenannten Arztinformationssystems. Dabei finden die wichtigsten Informationen aus der Nutzenbewertung Eingang in die Verordnungssoftware der Vertragsärztinnen und -ärzte. Damit kann die Nutzenbewertung eine ihrer wichtigsten Funktionen, die Prägung der Versorgung durch unabhängige Information, besser erfüllen. Leider wurde versäumt, Transparenz im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Verordnung zu verankern.
Die AMNOG-Prinzipien, also die Bereitstellung von Informationen zum Zusatznutzen und eine nutzenadäquate Bepreisung neuer Arzneimittel, gelten seit 2018 auch im stationären Sektor.
Von Seiten der pharmazeutischen Industrie wird bemängelt, dass die Erstattung im stationären Sektor durch die geltenden Regelungen zur Festsetzung eines Entgelts für Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, kurz NUB, gehemmt sei, wohingegen diese im ambulanten Sektor ab dem Tag des Inverkehrbringens gewährleistet ist.
In der Tat liegt hier eine Diskrepanz zwischen den Sektoren vor, die nur durch eine Synchronisierung des NUB-Prozesses mit der AMNOG-Zeitlinie und eine Sicherstellung des Einsatzes von Arzneimitteln mit Erstattungsbetrag zu den zwischen den Vertragspartnern abgestimmten Konditionen un-abhängig vom Einsatzort zu beheben sein wird.
DÄ: Was stört Sie am derzeitigen AMNOG-Verfahren?
Haas: Von Anbeginn waren die erzielbaren Einsparungen des AMNOG-Verfahrens durch einen wesentlichen Konstruktionsfehler begrenzt: Der Erstattungsbetrag gilt erst ab dem 13. Monat nach Inverkehrbringen eines Arzneimittels, sodass der pharmazeutische Unternehmer im ersten Jahr nach Marktzugang einen frei gewählten Preis realisieren kann. Dies führt aktuell dazu, dass Arzneimittel mit teils exorbitant hohen Preisen im deutschen Markt angeboten werden, oftmals ohne dass diesen ein adäquat nachgewiesener Zusatznutzen gegenüberstünde.
Hohe Markteintrittspreise erschweren dabei nicht nur die Erstattungsbetragsverhandlungen. Bei einmalig anzuwendenden Gentherapien kann unter Umständen im ersten Jahr die gesamte Patientenpopulation unter faktischer Umgehung des AMNOG behandelt worden sein.
Hier ist es unbedingt notwendig, die Preisspirale zu durchbrechen. Evidenzlücken müssen zudem preiswirksam werden. Nur so kann das Nachweisprinzip auf Seiten der Unternehmen wiederhergestellt werden.
Deutschland ist innovationsfreundlich. Selbstverständlich sollen daher für GKV-Versicherte neue Arzneimittel schnellstmöglich und sicher zur Verfügung stehen. Allerdings führt die zunehmend beschleunigte Zulassung von Arzneimitteln zu teilweise großen Unsicherheiten zur Wirksamkeit, zu Risiken und zum Zusatznutzen dieser Produkte.
Zum Wohle der Patienten, zur besseren Orientierung der Leistungserbringer und zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierbarkeit ist es daher erforderlich, dass sich die Erstattung zukünftig grundsätzlich auf die Anwendungsgebiete bezieht, in denen vom Unternehmer ausreichend belastbare Nachweise über die Versorgungsbedeutung ihres Produktes vorgelegt werden.
DÄ: Das AMNOG-Verfahren wurde mehrfach vom Gesetzgeber geändert. Wie bewerten Sie die Änderungen?
Haas: Seitdem das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz Ende 2010 verabschiedet wurde, verging nahezu kein Jahr ohne mehr oder weniger einschneidende Veränderungen der rechtlichen Grundlagen. Während die ersten Reformen durch insgesamt neun Gesetze von Nachjustierungen technischer Details gekennzeichnet waren, kam es bereits mit der Aufhebung des Wirtschaftlichkeitskriteriums bei der Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch den G-BA ab 2013 zu tiefgreifenden Gesetzesänderungen, die die ursprüngliche Stringenz des AMNOG-Verfahrens an wesentlichen Stellen ausbremsten.
Zu diesen zählte zum Beispiel die 2014 vorgenommene Rücknahme der Nutzenbewertung des Bestandsmarkts, das heißt von Arzneimitteln, die bereits vor Inkrafttreten des AMNOG im Verkehr waren. Dies verhinderte die unabhängige Bewertung der Bestandsarzneimittel. Die fehlende Kontrolle möglicher Preiswillkür und die damit einhergehende Ungleichbehandlung von direkt mit dem Neumarkt im Wettbewerb stehenden Arzneimitteln führten zu einer spürbaren Schwächung des AMNOG-Verfahrens.
Die gesetzliche Kehrtwende wirkt bis heute nach. Daran änderte auch nichts, dass der Gesetzgeber drei Jahre später die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit einer Neuzulassung – stark eingeschränkt – erneut ermöglichte. Diese sogenannte kleine Bestandsmarktbewertung kann nur sehr vereinzelt zur Anwendung kommen.
Außerdem findet derzeit eine Aufweichung des Preisdeckels bei Arzneimitteln ohne Zusatznutzen statt. Für den „begründeten Einzelfall“ wurde dafür die bis dato geltende Maßgabe verlassen, dass der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen darf als die der zweckmäßigen Vergleichstherapie – beziehungsweise, bei mehreren Alternativen in der zweckmäßigen Vergleichstherapie, die der wirtschaftlichsten Ausprägung. Vor dem Hintergrund nachfolgender Schiedsstellenentscheidungen droht die vom Gesetzgeber als Ausnahmefall konzipierte Öffnung in praxi zum Regelfall zu werden.
Zudem haben die Einflussmöglichkeiten auf Prozesse und Ergebnisse des AMNOG durch verschiedene Akteure außerhalb der Selbstverwaltung kontinuierlich zugenommen. Beteiligungs- oder Stellungnahmerechte von medizinischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden, Bundesoberbehörden und nicht zuletzt des Bundesministeriums für Gesundheit selbst wurden insbesondere in der laufenden Legislaturperiode an verschiedenen Stellen des Verfahrens gesetzlich verbrieft.
Das ist teilweise verständlich und willkommen, führt aber auch zu einer deutlichen Komplexitätszunahme des gesamten Prozesses. Bei den anwendungsbegleitenden Datenerhebungen führt dies leider auch zu einer Verzögerung dringend benötigter Ergebnisse.
DÄ: Wie bewerten Sie die Einführung der anwendungsbegleitenden Datenerhebung im vergangenen Jahr?
Haas: Mit den anwendungsbegleitenden Datenerhebungen und -auswertungen wurde dem G-BA 2019 ein Instrument an die Hand gegeben, um bei Arzneimitteln mit bedingter Zulassung, mit Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen und von Arzneimitteln für seltene Leiden die gravierenden Informationslücken bei Marktzulassung nachträglich zu schließen.
Allerdings kann die Forderung einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung frühestens mit Inverkehrbringen des Arzneimittels wirksam werden, womit erst der Aufbau beziehungsweise Ausbau eines Indikationsregisters durch den pharmazeutischen Unternehmer beginnt. Dies führt zu einer Verzögerung in der Umsetzung, die nicht nur die Patientensicherheit aufs Spiel setzt, sondern auch eine zeitnahe Reevaluation des Zusatznutzens erschwert.
Um die Datenerhebung vollständig auszugestalten muss eine frühestmögliche Erfassung durch verpflichtende Indikationsregister ab Tag 1 der Marktverfügbarkeit gewährleistet sein. Diese Registerpflicht sollte ausnahmslos alle ATMPs betreffen. © fos/aerzteblatt.de

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