Medizin
COVID-19: Vitamin D vermeidet Intensivbehandlung und Tod in umstrittener Studie
Dienstag, 16. Februar 2021
Barcelona – Die Behandlung mit Calcifediol, einem Vitamin D-Derivat mit raschem Wirkungseintritt, hat in einer offenen randomisierten Studie verhindert, dass wegen COVID-19 hospitalisierte Patienten auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Auch das Sterberisiko wurde gesenkt. Die zur Publikation im Lancet (2021; DOI: 10.2139/ssrn.3771318) angekündigte Studie stößt jedoch bei Experten auf Vorbehalte.
Seit einigen Wochen wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob eine Substitution mit Vitamin D den Krankheitsverlauf von COVID-19 abschwächen könnte. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Erkrankung bei Menschen mit einem Vitamin D-Defizit, das in vielen europäischen Ländern in den Wintermonaten vor allem bei älteren Menschen weit verbreitet ist, häufig schwerer verläuft.
US-Forscher ermittelten in einer Kohortenstudie ein um 77 % erhöhtes Risiko (JAMA Network Open, 2020; DOI: 10.1001/jamanetworkopen.202019722) und nach Berechnungen in Aging Clinical and Experimental Research (2020; DOI: 10.1007/s40520-020-01570-8) war die Mortalitätsrate in der ersten Welle in den europäischen Ländern mit niedrigen Vitaminkonzentrationen am höchsten (paradoxerweise sind dies die Mittelmeerländer, wo die Hautfarbe dunkler ist und die Nahrung weniger Vitamin D enthält).
Mediziner des Hospital del Mar in Barcelona entschlossen sich während der ersten Welle im März 2020, auf 5 der 8 COVID-19-Stationen alle Patienten mit chronischen Vorerkrankungen und/oder schweren Symptomen mit Vitamin D zu behandeln. Die Patienten der anderen 3 Stationen bildeten die „randomisierte“ Kontrollgruppe.
Zum Einsatz kam das Derivat Calcifediol, das nicht mehr in der Leber metabolisiert werden muss und dessen Wirkung deshalb früher einsetzt.
Wie das Team um Natalia Garcia-Giralt von der Universität Barcelona berichtet, wurden auf den 5 Stationen insgesamt 551 Patienten mit Calcifediol behandelt, auf den anderen 3 Stationen erhielten 379 Patienten zunächst keine Vitamin D-Substitution (später entschieden sich die Ärzte dort, 50 Patienten doch mit Calcifediol zu behandeln.
Von den 551 Patienten mussten 30 (5,4 %) später auf Intensivstation verlegt werden gegenüber 80 von 379 Patienten (21,1 %) in der Kontrollgruppe. Die Patienten, die auf Intensivstation behandelt wurden, hatten bei der Aufnahme in der Klinik niedrigere Konzentrationen von 25(OH)-Vitamin D (entspricht chemisch Calcifediol) im Blut (11 versus 15 ng/ml). Sie waren auch häufiger adipös.
Garcia-Giralt ermittelt nach Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, 25(OH)-Vitamin D bei der Aufnahme und Komorbiditäten ein relatives Risiko von 0,18, das mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 0,11 bis 0,29 hoch signifikant war. Die Behandlung mit Calcifediol hätte demnach das Risiko auf eine Intensivbehandlung um 82 % gesenkt.
Von den insgesamt 930 Patienten sind 93 gestorben. Von den 551 Patienten der Calcifediolgruppe starben 36 (6,5 %) gegenüber 57 von 379 Patienten der Kontrollgruppe. Dies ergibt ein relatives Risiko von 0,36 (0,19 bis 0,67). Die Behandlung mit Calcifediol hätte demnach das Sterberisiko um 64 % gesenkt.
Wenn allerdings die 50 Patienten der Kontrollgruppe einbezogen werden, die entgegen der Randomisierung mit Calcifediol behandelt wurden, stieg das relative Risiko auf 0,64 (0,34 bis 1,18) an. Die Risikominderung war dann mit 36 % geringer und nicht mehr signifikant. In einer weiteren Analyse, die die Calcifediolgruppe mit den Patienten der Kontrollgruppe gegenüberstellt, die tatsächlich kein Calcifediol erhielten, ergab sich ein relatives Risiko von 0,48 (0,24 bis 0,95), was wiederum eine signifikante Senkung der Sterblichkeit um 52 % anzeigt.
Zu den Einschränkungen der Studie gehört, dass es keine Placebogruppe gab. Die Kenntnis der Behandlung könnte die Entscheidung der Ärzte, ihre Patienten auf die Intensivstation zu verlegen, beeinflusst haben. Unterschiede in der Behandlung könnten sich auch auf das Sterberisiko ausgewirkt haben (obwohl es damals noch keine nachweisbar effektive Behandlung gab). Eine weitere Einschränkung ist, dass die 25(OH)-Vitamin D-Konzentration im Verlauf der Behandlung nicht mehr kontrolliert wurde.
Die erste Reaktion der vom Science Media Center in London befragten Experten fiel verhalten aus. Kritisiert wurde neben dem Verzicht auf eine Placebogruppe auch die Randomisierung nach Stationen anstatt nach Patienten. Tatsächlich gibt es Unterschiede in den Patienteneigenschaften, die bei einer Randomisierung, also der Verteilung nach dem Zufallsprinzip, eigentlich vermieden werden sollen.
In der Calcifediolgruppe gab es weniger Männer (53 versus 59,6 %) und die Ausgangswerte von 25(OH)-Vitamin D waren etwas günstiger (15 versus 12 ng/ml). Beides könnte die Chancen auf ein gutes Therapieergebnis beeinflusst haben, da der Verlauf von COVID-19 bei Männern schwerer ist und ein höherer Vitamin D-Wert auf eine bessere Konstitution der Patienten hinweist.
Auch der hohe Anteil der Protokollverletzungen könnte das Ergebnis der Studie verfälscht haben. Die Ärzte könnten nicht näher genannte Gründe gehabt haben, ihre Patienten entgegen der Absprache mit Calcifediol zu behandeln, was ebenfalls dem Grundsatz der Randomisierung widerspricht.
Auch die fehlende Registrierung der Studie wurde von den Experten bemängelt – sie muss vor Beginn erfolgen, um eine selektive Publikation von positiven Studienergebnissen zu vermeiden. Für die Experten sind die Ergebnisse deshalb kein Beweis für eine Wirkung.
Sie rieten, zunächst die Ergebnisse laufender Studien abzuwarten. Dazu gehört beispielsweise die CORONAVIT-Studie, die 6.200 Infizierte auf 2 Dosierungen von Cholecalciferol oder eine Kontrollgruppe randomisiert. Ergebnisse werden allerdings erst Ende Juni vorliegen. Bis dahin bleibt der Nutzen ungewiss.
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) hat sich in einer Handlungsempfehlung gegen den prophylaktischen oder therapeutischen Einsatz von Vitamin D ausgesprochen. Die Fachgesellschaft rät allerdings allen Menschen mit Vitamin D-Mangel generell zu einer Substitution. Zu den Risikogruppen gehören Ältere, Bewohner von Pflegeeinrichtungen und chronisch kranke Menschen, die sich nur selten im Freien aufhalten. Dies sind vielfach auch die Personen, die ein erhöhtes Risiko auf einen schweren Verlauf von COVID-19 haben. © rme/aerzteblatt.de

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